Unser Vater war sicherlich kein glänzender Lehrer, und gewiss kein Erzieher. In einer Stadtschule hätten ihm die Kinder ins Gesicht gelacht, das war hier undenkbar; er wurde von den Kindern als etwas Gottgewolltes empfunden und hingenommen. Die Kinder fühlten auch, er war ihnen allen, und jedem einzelnen besonders, sehr gut, sein Blick hing mit Liebe und Wohlgefallen an ihnen, wenn sie gut gelernt hatten, und mit Sorge und Betrübnis, wenn es ihnen nicht gelang. [...]
Soviel nur irgend möglich, schützte der Lehrer die Kinder vor ihren eigenen, ungebildeten Eltern, die oft roh waren. Er duldete nicht, dass sie daheim über ihre Kräfte ausgenutzt oder sinnlos bestraft wurden. Er sieht ihnen an, wenn Zuhause etwas nicht in Ordnung ist, geht zu den Eltern, lässt sich erzählen, warum sie unzufrieden sind mit den Kindern, spricht ihnen gut zu und lacht zuletzt mit ihnen und sagt: "Nur Geduld, die Kinder sind brav und gut, ordentlich und fleißig, ich lasse auf meine Schulkinder nichts kommen. Sie werden einmal sehen, wie sich der Junge oder das Mädel später im Leben bewähren wird, an dem werden Sie noch Ihre Freude haben. Waren Sie denn als Kinder Engel? Das muss sich austoben, und wie schwer haben es die Kinder erst, wenn sie arm, wie wir alle sind, in die harte Fremde kommen mit 14 Jahren; lassen Sie doch um Gottes Willen den Kindern etwas Freude und Übermut." Und weil der Lehrer streng und wahrhaftig war, so glaubten's ihm die Eltern und wussten die Kinder bei ihm in guter Hut. Wenn er ihnen auch als Mensch gar nicht passte, als Lehrer hielten sie große Stücke auf ihn.
Unser Vater war ein Autokrat, ein selbstherrlicher Herrscher. Die Kinder seiner Gemeinde waren sein unumschränktes Reich. Kommt irgendwo in seiner Domäne ein Rind auf die Welt, so zieht er nach der Schule sein schwarzes Röckchen an, bürstet sich die Schuhe blank, strählt sich den weißen Kopf, den langen weißen Bart, und geht in das Haus, wo ihm ein Kind zugeboren ist. Er fühlt sich als Ordnungspolizei, sieht nach dem Rechten, schaut nach, ob es der Wöchnerin gut geht, ob es ihr an nichts fehle, kurz, ob alles in Ordnung ist. Dann betrachtet er mit großer Befriedigung das Kind, stellt fest, daß es wohlgeraten ist. Wehe, wenn dem nicht so wäre! Das Kind muß auch in sein Synagogenbuch eingetragen werden, denn zu jener Zeit wurden die jüdischen Menschen noch nicht im Standesamtsregister, sondern im Synagogenbuch bei Geburt und Sterbefall eingetragen. Nun fühlt sich unser Vater wieder ganz als Sachwalter für das Neugeborene. Der betreffende Vater würde ihm Gott weiß was für einen altmodischen scheußlichen Namen geben, er würde es Itzig, Schmuel, Voel oder Hirsch genannt haben; ein Mädchen gar Reis oder Mahd. "Nichtsda", ruft mein Vater streng, "so ein Name würde dem Kind nur Spott eintragen; es würde darüber verhöhnt und verlacht werden. Das Kind wird nicht Reis, sondern Röschen, nicht Mahd, sondern Meta, nicht Itzig, sondern Isidor usw. ins Register eingetragen!"