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Projekt Moses Brandes

War aber irgendwo ein Kind erkrankt, auch dann zog der Lehrer seine Stiefel an, ging hin, sah nach, und sollte es gar ernstlich krank sein, so wachte er am Krankenbett mit den Eltern und noch einem Gemeindemitglied. Kam gar eins zum Sterben, so wurde er in tiefer Nacht gerufen, wenn er nicht schon vom Abend her am Bett saß, und blieb da, bis das schmerzliche Ende vorbei war.

Bei dem Erwachsenen, der zum Sterben kommt, ist die ganze Gemeinde vollzählig versammelt, um die Totengebete mit ihm zu sagen, ihn hernach abzuheben und auf Stroh zu legen. Nur zwei Leute bleiben zum Wachen da. Anderntags versammeln sich die Frauen, nähen gemeinsam die Totenkleider, die Männer zimmern den Sarg, und so kostet die Beerdigung nach jüdischem Brauch wenig oder gar nichts, damit die Trauernden nicht durch Geldsorgen von ihrer Trauer abge­lenkt werden. - Der Kinder Sterben geht meinem Vater besonders nah, denn ihm ist etwas fortgenommen aus seinem Reich. Ebenso wie nach seinen Worten "kein Blatt vom Baum fällt, wenn es nicht Gottes Wille ist", gerade so absolut denkt er über seine Machtbefugnisse über das Häufchen Menschen, das seine Gemeinde darstellt.

Einmal war ein kleines Kind von zwei Jahren so schwer erkrankt, daß mein Vater entschied, es ist dem Kind besser, wenn es stirbt, rasch stirbt, als länger die Qualen einer Gehirnhautentzündung zu ertragen. Vater schickt am hellen Alltag, mittags um 12 Uhr, zu sämtlichen Männern der Gemeinde, daß sie sich sofort in der Synagoge einfin­den. Das war bald geschehen, da fehlte keiner. "Wir wollen dafür beten, daß das Kind rasch stirbt", entschied mein Vater, kurz angebunden, wie es seine Art war. Ohne Zö­gern tat es die ganze Gemeinde. Diesem strikten Befehl meines Vaters konnte sich denn auch der Tod nicht widersetzen, und das arme gequälte Kind starb am gleichen Tag.

  
"Vater schickt am hellen Alltag, mittags um 12 Uhr, zu sämtlichen Männern der Gemeinde, daß sie sich sofort in der Synagoge einfin­den." (Johanna Harris)
Die in den 1830er Jahren errichtete Synagoge in Oberaula im Jahr 1944, davor christliche Kinder.
In der rechten Gebäudehälfte war die Wohnung des jüdischen Lehrers.