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Projekt Moses Brandes

"Unmöglich", rief mein Vater, als der Pfarrer ihm diesen Plan schmackhaft zu machen versuchte. "Während den Bauernkindern jeder Anreiz zum Lernen vom Elternhaus aus fehlt, kommt das jüdische Kind voll Lern- und Wißbegierde in die Schule und wird im Elternhaus zum Lernen angehalten. Dazu kommt noch, daß die christliche Bevölkerung durch das antisemitische Sonntagsblatt und alle sonstigen Einflüsse ihren jüdischen Mitbewohnern insgeheim feindlich ist, was sich auf die Kinder überträgt. Es würde eine feindselige und vor Neid und Mißgunst allen Kindern unzuträgliche Atmosphäre entstehen, die jeder Schule und jedem Lehrer Abbruch täte."

"Machen wir doch einmal einen ganz kleinen Versuch", sprach der Pfarrer, "fangen wir doch einmal damit an, die jüdischen Mädchen in die Strickschule zu schicken, die von der Ortshebamme geführt wird, und ich bin sicher, die Kinder werden sich vertragen. Für die Knaben habe ich schon den allgemeinen Turnunterricht angeordnet, und es wird (da Turnunterricht früher nicht obligatorisch war) ein Freund von mir, ein Turnlehrer hierherkommen und unterrichten."

"Herr Pfarrer", rief mein Vater erfreut, "wie schön, daß wir einen so fortschrittlich gesonnenen Mann als Schulinspektor bekommen haben. Nur meine ich", fuhr er fort, "die Vorbedingungen für die gemeinsame Erziehung müßten von dem tonangebenden Teil der Bevölkerung zuvor durch ihr Beispiel gegeben werden." - "Wie soll ich das verstehen?" fragte der Pfarrer, etwas gereizt. "Nehmen wir zum Beispiel den jungen, jüdischen Arzt, der seine Studien nicht in der Kneipe, sondern bei ernsten Büchern verbracht hat, ein sehr geistreicher, feingebildeter Mann. Herr Pfarrer, Sie sind doch auch sein Nachbar? Haben Sie oder der Herr Amtsrichter oder der Postmeister oder der Herr Oberförster je ein Wort mit dem Mann gewechselt?" - "Wie sollte ich wohl", rief der Pfarrer, "der Mann steht als Jude außerhalb der Gesellschaft, er gehört nicht zu unseren Honoratioren, ebensowenig wie ich mit dem Gendarm verkehren kann, noch viel weniger mit einem Juden. Übrigens, Sie haben den Herrn Amtsrichter genannt, nun der verkehrt nicht mit dem Pfarrer, so wenig wie ich mit dem Lehrer verkehre." Vater erwiderte: "Entschuldigung, Herr Pfarrer, ich muß zum Gottesdienst, ich werde veranlassen, die Mädchen in die Strickschule, die Knaben zum Turnunterricht zu schicken. Guten Tag, Herr Pfarrer."


  
Johanna Brandes-Harris zitiert ihren Vater mit der Aussage, dass "die christliche Bevölkerung durch das antisemitische Sonntagsblatt und alle sonstigen Einflüsse ihren jüdischen Mitbewohnern insgeheim feindlich ist, was sich auf die Kinder überträgt."
In der Tat machte die in Kassel erscheinende Wochenzeitung, die in kaum einem Haushalt fehlte und von den Pfarrern durchweg unterstützt wurde, keinen Hehl aus ihrer antisemitischen Haltung. So etwa schrieb der Herausgeber beim Wahlsieg der "Antisemitischen Volkspartei" im Juni 1893
auf Seite 1:
„Der Verleger dieses Blattes ist Antisemit von ganzer Seele, aber nur auf christlicher Grundlage. (…) Zweitens haben wir die Juden jetzt nur als das anzusehen, als was sie angesehen werden müssen seit der Kreuzigung Christi und der Zerstörung Jerusalems, nämlich als ein Volk, das von Gott um seiner schweren Sünden willen verstoßen ist. Und deswegen haben sie auch kein Recht, mit uns gleiche Rechte zu haben. (…), denn die Juden gehören unter ein Ausnahmegesetz und weiter nichts. Wir brauchen sie nur zu dulden, aber nicht über uns herrschen zu lassen und wäre es auch nur durch die Macht des Geldes.“ (20.08.1893)