Projekt Dr. med. Carl Dellevie
Carl Dellevie bewarb sich am 28. März 1831 beim Magistrat seines Geburtsorts Rotenburg für
ein Stipendium zum Studium der Medizin an der Universität Marburg. Hier mußte er jedoch die
Erfahrung machen, daß mit der verfassungsmäßigen Gleichstellung der Juden nicht automatisch
auch die gleichen realen Lebenschancen verbunden waren. Unter Berufung auf den
eigentlichen Stiftungszweck wies Pfarrer Gutberlet, Pfarrer der Kirchengemeinde Rotenburg-Altstadt, in seiner Stellungnahme vom 18.04.1831 an den Rotenburger Stadtrat darauf hin,
dass es sich verbiete, das städtische Stipendium einem Juden zu gewähren, „wo es nur einem
christlichen Theologiestudenten bestimmt sei", wie in der Marburger Archivakte Nr. 2260 im
Bestand 330 Rotenburg nachzulesen ist.
Zwischen grundsätzlicher rechtlicher Gleichstellung und tatsächlicher Umsetzung in konkreten
Lebenssituationen klaffte also noch immer ein deutliches Mißverhältnis. Immerhin jedoch hatte
der Betroffene Möglichkeiten des Einspruchs, denn es gab noch einigen Schriftwechsel, ehe im
Juni 1831 die Ablehnung endgültig war.
Aber auch ohne städtisches Stipendium begann Carl Dellevie sein Universitätsstudium. Vom
Frühjahr 1831 bis Herbst 1834 studierte er an der hessischen Landesuniversität in Marburg
Humanmedizin. Im März 1835 promovierte er zum Dr. med. und legte danach das Examen in
Arzneikunde und Geburtenhilfe ab. Gegen Jahresende 1836 reichte er beim Obermedizinischen
Kollegium in Kassel die Zulassung als praktischer Arzt in Hersfeld ein.
Dort stieß sein Ansinnen aber auf wenig Gegenliebe. Der Hersfelder Landrat Hartert und der
Kreisarzt Dr. Zins zeigten sich in ihrer Stellungnahme gegenüber der Provinzregierung in Fulda
besorgt, dass die drei bereits in Hersfeld praktizierenden Ärzte durch die Zulassung eines
weiteren Kollegen sich in ihrer Existenz bedroht sehen müssten, da sie bereits jetzt kaum ihr
Auskommen hätten und man in Hersfeld aufgrund der niedrigen Zahl von Patienten keinen
weiteren Arzt benötige. Zusätzlich erhoffte sich der Kreisarzt bei der Provinzregierung wohl ein
positives Echo auf sein antjüdisches Klischeebild, demzufolge der Antragsteller als Sohn eines
Juden einen Vater hat, der es "höchstwahrscheinlich nicht unterlassen wird, seinem Sohn auf
alle Art Kunden zu verschaffen".
So erlebte Carl Dellevie innerhalb weniger Jahre zum zweiten Mal die Diskrepanz zwischen
verfassungsrechtlich verbürgter Gleichheit und der alltäglichen Realität.
Das Obermedizinische Kollegium in Kassel ließ sich von den vorgetragenen Einwänden gegen
eine Arztzulassung des Juden Carl Dellevie offenbar nicht entscheidend beeindrucken und
erteilte dem Bewerber am 28. März 1837 die Erlaubnis zur Niederlassung als Arzt in Hersfeld.
Nach dem neuen kurhessischen Gesetz
vom Oktober 1831 erhielten die
"Staatsangehörigen israelitischen Glaubens
(...) gleiche Rechte mit den Unterthanen
anderer Bekenntnisse".
Quelle: O. Abbes, Hersfelds jüdische Geschichte, S. 53.