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Projekt: Isidor Fackenheim
Ilse Abraham-Friedmann:
Mein Großvater Isidor
"Über unsere Stadtgrenzen hinaus war er hoch anerkannt und gut bekannt. Die Leute aus dem Ort, die in seine Bierstube kamen, dachten nie daran, in das Hotel Fackenheim zu gehen - auf ihr tägliches Glas Bier gingen sie zu Isidor, um dort die Zeitung zu lesen und sich mit ihm zu unterhalten und dann nach ein oder zwei Stunden mit einem warmen und angenehmen Gefühl wieder wegzugehen. Ein tägliches Ritual!
Neben dem Besitz des Hotels, dessen Betrieb er Großmutter überließ, hatte er eine Versicherungsagentur. Fast jeder Bauer im Ort kaufte bei ihm die Hagelversicherung und bei dieser Gelegenheit verkaufte er ihnen auch eine Lebensversicherung.  Sein Versicherungsgeschäft lief glatt, fast ohne dass er sich dabei bemühte. Er war für seine Ehrlichkeit so gut bekannt, dass die Leute zum Kauf der Versicherungen zu ihm kamen. Kaum jemals setzte er einen Fuß vor die Tür. Ich glaube nicht, dass heute irgend jemand seinen Lebensunterhalt auf diese Art verdienen könnte.
Er arbeitete im Laufe seines Lebens wirklich nicht allzu schwer, aber er verdiente genug Geld, um seinen einzigen Sohn zur Universität und zum Medizinstudium schicken zu können, und er gab jeder seiner drei Töchter bei ihrer Heirat eine Aussteuer und eine beträchtliche Summe Geld. Als er sich zur Ruhe setzte, war er in guten finanziellen Umständen. Er war kein praktischer Mann. Jeden Morgen musste Großmutter ihm helfen, seine Krawatte anzuziehen. Das hat er nie geschafft, bis er über siebzig war und Großmutter gestorben war. Er führte ein sehr geregeltes Leben, stand jeden Morgen zur selben Zeit auf, verlangte zu einer festen Zeit seine Mahlzeiten, und wenn es abends auf zehn Uhr zuging, legte sich Großvater ins Bett, ohne Rücksicht darauf, was Großmutter noch alles zu tun hatte oder was sonst noch zu machen war.
Mit dem Hotel betrieben meine Großeltern noch einen Tanzsaal, in dem die meisten Hochzeiten der Stadt gefeiert wurden. Wenn eine der reichen Bauerstöchter heiratete, ging die Feier mit all dem Tanzen, Essen und Trinken bis in die frühen Morgenstunden. Bei diesen Anlässen hatten sie zwar extra Hilfe, aber Großmutter blieb immer die ganze Nacht auf, um alles unter Kontrolle zu haben. Großvater ging selbstverständlich um 10 Uhr zu Bett und  murmelte dabei vor sich her, dass er bei diesem großen Lärm im Haus wohl kaum schlafen könne. Viele Male hörte ich Mutter von einem Vorfall erzählen, als Großmutter bei einer Hochzeit mit Grippe im Bett lag. Um 10 Uhr stampfte der arme, hilflose Großvater ins Schlafzimmer und stellte ernstlich fest: „ Rosa, wenn Du doch nur nicht im Bett wärst?“ Großmutter beantwortete die Frage: „ Was wäre denn dann, wenn ich nicht im Bett läge?“ „ Na ja, dann könnte einer von uns zu Bett gehen.“ Großmutter erwiderte darauf mit gewohnt freundlichem Lächeln: „Einer von uns liegt im Bett.“ Armer Großvater! In dieser Nacht musste er wirklich durchhalten und schwer arbeiten.
Damals war elektrische Kühlung noch unbekannt und das Bier musste mit Eis gekühlt werden. Natürlich gab es im Winter genügend Eis, aber mein Großvater bediente sich in der Sommerzeit eines speziellen Systems zur Bierkühlung. Um dafür Eis zu haben, wurde für dessen Herstellung im Winter ein künstlicher Teich angelegt. Dieses Eis wurde dann in den von uns so genannten Eiskeller gebracht, ein kleines Haus im hinteren Bereich des Anwesens. Es war mit doppelt isolierten Wänden und mit festem Flachdach gebaut worden. Das Eis wurde mit einem Wagen, der von einem Gespann mit vier Pferden gezogen wurde, von dem Teich herantransportiert. Starke Männer griffen mit Zangen die großen Eisbrocken und warfen sie auf das Flachdach, in dem sich eine Falltür befand. Andere Männer hackten die Eisklumpen mit Äxten in kleinere Stücke und schaufelten sie durch die Falltür. Wenn der Keller voll war und ehe die Klappe geschlossen wurde, warf man Torf oben auf  das Eis zur Isolation. Wenn das Eis bei wärmerem Wetter benötigt wurde, konnte es durch eine Doppeltür im Fußboden, die in den Keller führte, herausgeholt werden. An den Keller angrenzend war ein kleiner Vorraum mit Regalen rundherum, 
um verderbliche Waren kühl zu halten, und mit einer niedrigen Tür, die in den eigentlichen Eisraum führte, wo das Eis bald zu einem riesigen Klumpen geworden war. Mit einer Spitzhacke wurde das Eis losgeschlagen und im Eimer auf die Kupferleitung befördert, die von dem riesigen Bierfass im Keller  zu den Zapfhähnen in der Etage höher führten. Am Ende der Leitung kam das eiskalte Bier aus dem Zapfhahn.
Was war es für eine Enttäuschung, als ich nach 35 Jahren in Amerika den Ort besuchte und sehen musste, wie das Bier jetzt durch eine Kühlanlage gekühlt wurde und der Eiskeller aus meinen Erinnerungen in einen Stall verwandelt war, wo jetzt Ochsen gehalten wurden. Es fiel mir schwer, die unvermeidbaren Veränderungen zu akzeptieren, die in meiner alten Heimatstadt stattgefunden hatten." 


  
Ilse Friedman geb. Abraham, Isidor Fackenheims Enkelin.
1984 hielt sie unter dem Titel "My Grandfather Isidor" ihre Erinnerungen an ihren Großvater fest, veröffentlicht in ihren autobiographischen Skizzen "The Writings of Ilse Friedman Golbert, 1914 -1987".
Der vollständige englische Originaltext steht als PDF-Datei zur Verfügung.
  
Klick: The Writings of Ilse Friedman-Golbert 1914-1987