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Projekt Dr. med. Willy Fackenheim

"Auch diese Nacht ging zu Ende. Am Morgen traten wir hinaus, und jetzt erst ergab sich, in welche Hölle wir geraten waren. Um die Latrine standen Hunderte und versuchten, ihre Wäsche und Kleider zu reinigen. Kein Wasser, kein Tropfen Wasser, um sich von dem eigenen Kot zu befreien. Kein Tier lebt, ohne sich zu reinigen, und uns fehlte hierzu das Allernotwendigste. Kopf an Kopf standen die Tausende von Juden bis zu den Knöcheln im Morast, verschmutzt, übernächtigt, ein Bild des Jammers - Ärzte, Anwälte, Gelehrte, Menschen höchsten Bildungsgrades, schlimmer behandelt als das schlechteste Vieh. Dabei waren Kranke darunter, um die wir fürchteten. Ärztliche Hilfe gab es nicht, Medikamente gab es nicht, es gab doch nicht einmal Wasser, um den brennenden Durst zu löschen, den diese Hölle ausgelöst hatte. - An diesem Morgen traf ich auf eine Gruppe von Freunden und Landsleuten. Jacob Oppenheimer, Fritz Marx (Sonnenbergerstraße), Berthold Guthmann, Max Liebmann, Paul Rothbart, und da mitten im Morast, mitten im Gedränge lag einer am Boden, Dr. Fackenheim. Wir Wiesbadener stellten uns um ihn, um zu verhüten, dass einer ihn träte, und die einzige Hilfe, die ich ihm bringen konnte, war eine Flasche Mundwasser, die ich in der Tasche hatte, eine Erholung, damit die ausge­dörrten Lippen zu benetzen, den Duft nach Pfefferminz einzuatmen. Sofort streckten sich mir rundum Hände entgegen, die auch einige Tropfen des köstlichen Nass ergattern wollten. Ich teilte aus, bis nur noch wenige Tropfen in der Flasche waren, die ich vorsorglicherweise für noch dringen­dere Fälle aufsparen wollte.

Dann kam der Befehl zum Antreten, Wir nahmen den durch Durchfall geschwächten Arzt Dr. Fackenheim unter die Arme, Jacob Oppenheimer rechts, ich links, und so traten wir an. Langsam erholte sich der gute Doktor und konnte wenigstens wieder allein stehen, und wir standen lange. Stunden und Stunden ertönte nur das Kommando „Richtung Vordermann". Zu Tausenden standen wir da, in aufgeschlossener Reihe, hier und da fiel einer zusammen, entkräftet vom Durchfall, vom Hunger, vom Durst und von schlafloser Nacht. „Ein Arzt“, tönte es von Mund zu Mund, und der gute Dr. Fackenheim, der sich selbst kaum auf den Beinen halten konnte, lief mit den letzten Tropfen meiner Mundwasserflasche als einziger Erquickung, als einziges Medikament hierhin und dorthin, bis ihm auch dieses barsch verboten wurde."

  
JEDEM DAS SEINE -
Spruch auf dem Eingangstor zum KZ Buchenwald bei Weimar
Während Walter Frank (Fackenheim) volle fünf Monate in Buchenwald inhaftiert war, wurde sein Vater Dr. Willy Fackenheim schon nach kurzer Zeit freigelassen. Dazu sein Sohn (in seinem Buch „People, Events, Stories“):

"Vater wurde zwei Wochen
nach seiner Verhaftung wieder freigelassen. Einem Gerücht zufolge geschah dies, weil ihm als Weltkriegssoldat in der deutschen Armee das Eiserne Kreuz verliehen worden war. Ein anderes Gerücht besagte, dass er aus gesundheitlichen Gründen freikam. Wir haben
die Wahrheit nie erfahren. Auf jeden Fall war Auswanderung der hauptsächliche Grund für die Freilassung aus dem Lager, weil die Nazis Deutschland „judenrein“, gesäubert von Juden, machen wollten."
Dr. med. Willy Fackenheim betreffend, existiert eine knappe Schilderung in der 1989 von Monika Richarz herausgegebenen Publikation „Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780-1945“. Dort beschreibt der Wiesbadener Fabrikant Hans Berger (geb. 1898), der zusammen mit Vater und Sohn Fackenheim am 11. November 1938 von Wiesbaden aus ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde, das Leiden der Inhaftierten in der Nacht nach der Verabreichung der „Walfischsuppe“. Zum Schluss schildert er, wie  sich der gepeinigte Dr. Fackenheim gegenüber Mithäftlingen verhielt.