Trotz der bitteren Erfahrungen und den schmerzlichen Erlebnissen,
die er während der Judenverfolgungen unter der Naziregierung in
Nentershausen machen musste, hatte Willy Katz seinen Heimat-
und Geburtsort nie vergessen. Das zeigte ein Bericht von Professor
Wilhelm Schwarz, gebürtig aus Iba, der später in Kanada lebte und
Willy Katz 1979 in Israel besuchte:
"In seiner Wohnung in Petach Tikvah hängt an der Wand ein Bild
von Nentershausen, wo er 1898 geboren wurde und wo seine
Familie über 200 Jahre als Ledergerber und Schuhmacher ansässig
war. Ein anderes Foto zeigt seine Mutter als schöne junge Frau, sie
ist in Nentershausen geboren und begraben. Ein drittes Foto zeigt
Willy Katz als blutjungen Rekruten in des Kaisers Uniform, kurz vor
dem Ende des Ersten Weltkrieges. In seiner Tasche trägt er neben
seinem israelischen Pass einen deutschen Ausweis. Und was denkt
er den lieben langen Tag, wenn er in Gedanken versunken dasitzt?
Am Telefon schon fragt er mich, was es denn Neues in
Nentershausen und Iba gäbe, wo ich kurz vorher zu Besuch
gewesen war. Dann sitzen wir in seiner Wohnung und sprechen
über gemeinsame Bekannte, lebende und tote. Willy Katz kennt sie
noch alle, die Leute in Nentershausen, Bauhaus, Süß, Iba, Solz,
Dens, Mönchhosbach und Rockensüß. Überall hat er seine Schuhe
verkauft, zuerst zu Fuß, dann mit dem Fahrrad und später, nach
dem Ersten Weltkrieg, mit Pferd und Wagen. Er kann sich noch an
alles erinnern. Er weiß, wen die Schwester meiner Großmutter
geheiratet hat, weiß, dass eine Tante von mir, Frau Gebhardt, in
Nentershausen in der Elzebach wohnt, in der gleichen Straße, in
der er bis 1940 selbst gewohnt hat. Ich sprach davon, dass ich
auch heute noch, nach 25 Jahren im Ausland, mit Heimweh zu
kämpfen habe. 'Mir geht es doch genau so', ruft Willy Katz, 'ich
darf es nur nicht sagen, sonst lachen mich meine Enkel aus.
Heimweh nach Deutschland, nach Nentershausen, das fehlte noch!'
Mit 42 Jahren hat Willy Katz noch spanisch gelernt, mit 75 Jahren
ist er nach Israel gekommen. Hebräisch kann er nicht, er lässt das
Fernsehprogramm ohne Ton laufen, verstehen kann er ohnehin
nichts. Eine Weile sprechen wir hessischen Dialekt (Mundart)
miteinander, den er nicht verlernt hat. 'Er schwatzt wahrhaftig
noch wie wir', soll eine Bäuerin in Iba ausgerufen haben, als sie
Willy Katz nach über 40 Jahren wiedersah. 'Einen alten Baum soll
man nicht verpflanzen', meint er etwas wehmütig. Dann schreibt er
mir zehn oder zwölf Namen auf ein Blatt Papier, Nentershäuser und
Ibaer, die ich von ihm grüßen soll. 'Gute Leute, gute Leute', sagt
er, und seine Frau stimmt ihm zu. Vom Autobus, an den er mich
gebracht hat, sehe ich ihn noch einmal über die Straße gehen,
groß, hager, vornübergebeugt, freundlich winkend. Ein
Nentershäuser in Israel!"
Willy Katz als "blutjunger Rekrut" (Wilhelm
Schwarz) im Ersten Weltkrieg (als Wandbild
in seiner Wohnung in Israel)