"Es ist nur sehr wenig, was mir von dem Tag in Erinnerung
geblieben, an dem ich in England ankam, außer dass es das
Flüchtlingskomitee des Bloomsbury House war, das uns begrüßte.
Wir wurden aufgeteilt und ich wurde zusammen mit anderen
verängstigten Kindern in die Russell House Schule mitten in London
transportiert. Davor war diese Schule ein Internat gewesen. Ein
Ehepaar leitete die Einrichtung. Er war ein boshafter und
herrschsüchtiger Mann, der die Schule wie ein kommandierender
General führte. Bis auf den heutigen Tag glaube ich, dass sie nach
den Nazis die gemeinsten Leute auf der ganzen Welt waren. Wir
durften untereinander nicht Deutsch sprechen (Englisch konnten
wir nicht). Wenn daher jemand beim Deutschsprechen erwischt
wurde, gab es Prügel, Bestrafung und vielerlei Misshandlungen,
das betraf besonders die Jungen. Wir mussten zu zweit und zu
dritt in einem Bett schlafen. Das Essen war unzureichend und
schrecklich.
Zusammengefasst, ich führte ein sehr einsames äußerst elendes
Leben Außerdem hatte ich Heimweh.
Im Verlauf des Sommers beschlossen die Eigentümer der Schule,
uns „aufs Land“ zu bringen. Unsere Essensrationen waren sogar
noch knapper als vorher, sodass wir oft auf dem Rasen saßen und
das grüne Gras aßen.
Während dieser wenigen Wochen erhielten wir die „Erlaubnis“,
Briefe zu schreiben die unser Schulleiter zensierte. Wenn sie
irgendetwas Negatives enthielten, so wurde uns gesagt, würden
sie nicht verschickt. Ich konnte Post von meinem Vater in Holland
erhalten.
Als wir „auf dem Land“ waren, konnten einige unserer Erzieher
(16-Jährige und auch Flüchtlinge) einen Brief an das Komitee des
Bloomsbury House herausschmuggeln, um dieses über unsere
Lebensbedingungen zu informieren. Nach dem Krieg wurde das
Ehepaar angeklagt, wegen ihrer Missetaten für schuldig befunden
und musste eine Gefängnishaft absitzen. Bald danach wurden wir
alle in die Atherton School in Folkestone eingewiesen. Diese
Schule wurde von Irene Goldschmidt und ihrem Mann aus Berlin
geleitet, wo sie ein sehr erfolgreiches Internat führte. Wir alle
atmeten erleichtert auf, das Leben war jetzt so angenehm wie
möglich. Essen, Fürsorger, Liebe und Verständnis waren im
Übermaß vorhanden.
Wir hatten täglich Unterricht und konzentrierten uns aufs
Englischlernen. Hier versuchten wir, das Beste aus unserem Leben
zu machen und wir waren fast wie eine Familie. Natürlich hatten
wir Heimweh nach unseren Eltern.
Irgendwie geschah es, nur ein nichtjüdisches englisches Mädchen
war an dieser Schule und wir wurden Freundinnen. Sie lud mich
über die Weihnachtsfeiertage zu sich nach Hause ein. Ich ging mit
ihrer Familie in die Kirche (das erste Mal) und nahm an dem
typischen englischen Weihnachtsessen teil - eine wunderbare
Erfahrung.
In den folgenden Kriegstagen wurde das an der Südostküste
Englands gelegene Folkestone die Eingangspforte für die
Bombenangriffe der Deutschen auf London und Dover. Ich hörte
später, dass die Schule im Juni 1940 evakuiert und anschließend
geschlossen werden musste.
Ilse Linz 1939 in England ("... wir oft auf dem
Rasen saßen und das grüne Gras aßen").
Oben: Russell House School, Otford/Kent,
2007 und Schullogo.