Breitenstraße 19-21 in Rotenburg
a.d. Fulda: Doppelhaus der
jüdischen Familien Linz und Gans
Klick: Blick in die Breitenstraße
So - dann gegen 6 oder 7 Uhr morgens schellte es wieder, und da kommt
meine Mutter mit meinem Vetter, der Sohn von der Schwester meiner
Mutter. Meine Mutter sah furchtbar aus. Sie sagte: „Sophie, weine nicht,
wir haben alles verloren. Nichts mehr, nichts mehr!“ Und sie kam rein.
Keine Träne hat sie vergossen.
Sie hatte nichts als ihre eigenen Kleider, nur was sie am eigenen Körper
hatte, keinen Koffer. Auch mein Vetter hatte nichts, nur was er anhatte.
Und dann hat sie angefangen zu erzählen. Sie sagte mir dann, dass der
Vater in Frankfurt war. Und sie war im Bett, war aber halb angezogen,
denn sie hatte Angst, dass was passiert. Unser Haus war ein Doppelhaus.
Und da war ein Fräulein Gans, eine Schneiderin. Die hatte Lehrmädchen
dort, die haben immer wunderbare Kleider genäht. Und oben war es
vermietet, an eine Familie Bettenhausen. Und die Käthe Bettenhausen
war auch eine Freundin von mir, war aber ein paar Jahre jünger. In der
Zeit hatte sie einen Freund. Sie sagte: „Frau Linz, man hat uns gesagt,
mein Freund hat gesagt, heute Abend passiert was in Rotenburg.“ Was,
wusste sie nicht. Sie wollte ihr nur sagen, damit sie bereit ist. Und aus
dem Grund war meine Mutter, glaube ich, angezogen.
Gegen 10, 11 Uhr abends hörte sie furchtbaren Radau, Fensterscheiben
zerschlagen, und es hat `ne ganze Zeit gedauert, denn das Schlafzimmer
war ja oben, im 2. Stockwerk. Und dann kamen so 2 Burschen rein: „Frau
Linz, gehen Sie raus, schnell! Oder sie kommen auf’s Rathaus, werden
eingesperrt, genau wie die anderen Juden.“ Das war ein Dörr, den
kannten wir. Meine Mutter war immer sehr gut zu ihm. Vielleicht war das
der Grund, weil er sie hat gehen lassen. Denn mit all dem Unglück hat sie
noch Glück gehabt, dass sie nicht eingesperrt worden ist. Dann hätten wir
sie nie wieder gesehen. Sie ist dann aus dem Hause zum Bahnhof und hat
den ersten Zug, der kam, genommen, der ging nach Kassel.