Jedenfalls hat sie meinen Vater abgeholt in Frankfurt und einen Onkel, der
Mann von der Schwester von meiner Mutter - denn die Frauen waren ja
sicher in der Großstadt -, und meinen Cousin, 16 Jahre alt, in den Zug von
Frankfurt nach Hamburg. Und da sind sie durch Hessen gekommen. Es war ja
mitten in der Nacht. Da hörten sie „Juden hier? Juden hier?“ Sie waren ruhig.
Und wie dann diese Männer in ihre Kabinen kamen: „Juden hier?“ Natürlich
haben sie „Ja“ gesagt. Und da haben sie die zwei Männer `rausgenommen
aus dem Zug und meine Mutter und meinen Vetter weiterfahren lassen. So
ist meine Mutter dann in Hamburg angekommen.
Meine Mutter hat sich dann etwas ausgeruht. Und dann sind wir gegangen
ihr ein paar Kleider zu kaufen, sie hatte ja nichts. Am dritten Tag, morgens
ganz früh - wir schliefen zusammen im selben Schlafzimmer -, da sagte
meine Mutter: „Ich höre ein Pfeifen, das ist der Vater.“ Und das war oben im
3. Stockwerk. Da bin ich herunter - und wirklich: mein Vater war an der Tür.
Den haben sie freigelassen, wahrscheinlich auch, weil er im Weltkrieg war.
Er war leicht zuckerkrank. Mit der Aufregung war der Zucker hoch und das
war wahrscheinlichauch - wir wissen es nicht. Jedenfalls, sie waren glücklich,
dass er wieder zurückkam. Inzwischen sagte die Frau Wolf zu mir: „Machen
Sie sich keine Sorgen, Ihre Eltern bleiben hier, solange wir hier sind. Wo Ihre
Heimat ist, da ist auch Ihrer Eltern Heimat.“
Nun, eine Woche später kam eine Karte - oder, ich weiß nicht, ob es ein Brief
war. Wie die wussten, wo meine Mutter war, das weiß ich nicht. „Sie
müssen nach Rotenburg zurückkommen, um das Haus in Ordnung zu
bringen.“ Natürlich mein Vater keinesfalls, denn den hätten sie doch noch
eingesperrt. Meine Mutter erlaubte nicht, dass ich mitgehe. Sie sagte: „Ich
gehe alleine.“
Titelblatt von Arno Kropats
Schilderungen der
Novemberpogrome 1938,
die in Nordhessen n der
Nacht vom 7. zum 8.
November ihren Anfang
nahmen.
Sophie Linz spricht von einem "Onkel, der Mann von der Schwester von meiner
Mutter (...) und meinem Cousin, 16 Jahre alt":
Hermann Moses, geb. 8.06.1884 in Frielendorf, heiratete Emmy Plaut (geb.
14.06.1893), die Schwester von Sophie Linz' Mutter Fanny Plaut. Hermann Moses
war am 1.10.1933 nach Frankfurt gegangen. Hermann und Fanny Moses´ Sohn
Ernst (geb. 13.12.1922) kam im November mit Sophie Linz' Mutter nach Hamburg,
von wo er zunächst mit einem sog. Kindertransport nach England gelangte. Von
dort holte ihn sein schon bald nach der NS-Machtergreifung emigrierter Onkel Hugo
Moses zu sich nach New York. Hier schaffte sich Ernst Moses eine Existenz als
Fabrikant von Brauthüten.
Emmy Plaut, geb. 14.06.1893 in Frielendorf, verh. mit
Hermann Moses, war die Schwester von Sophie Linz' Mutter.
Vom 14. Juni 1938 bis 22.11.1938 fand sie mit Ehemann
Hermann Moses, Sohn Ernst und Tochter Alice (geb.
9.04.1930) Unterschlupf bei ihren Rotenburger Verwandten.
Wie Ehemann Hermann Moses und Tochter Alice wurde sie
1942 Opfer des Holocaust (Deportation von Frankfurt aus).
Klick: Emmy Plaut, verh. Moses, zusammen mit ihrer
Schwester Fanny, verh. Linz, und der Rotenburger
Schneidermeisterin Jettchen Gans