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Projekt: Hans Löwenberg
Der Gottesdienst am Sabbatmorgen
Der Gottesdienst am Sabbatmorgen - das Schachris - fing gewöhnlich um 8 Uhr an und dauerte ungefähr
bis kurz nach 11 Uhr. Es gab aber eine Anzahl besonderer Sabbattage, an denen zusätzliche Gebete gesagt wurden, die den Gottesdienst verlängerten. Im Unterschied zu der Andacht an den Wochen­tagen wurden am Sabbat noch spezielle Psalmen, Gebete und Hymnen zum Lobe des „HERREN" hinzugefügt. Danach folgte das Ausheben der Thora-Rollen aus dem Heiligen Schrank - dem Oren Ha' Kodesch. Dieses bezieht sich auf das Vorlesen aus der Thora - dem Pentateuch -, und die dazu gehörende Zeremonie wird wie folgt beschrieben: Die Thora, der Pentateuch, ist auf Pergament in handgeschriebenen hebräischen Buchstaben ohne Vokale zu lesen. Der Pentateuch besteht aus den Fünf Büchern Mose, die wiederum in Kapitel (= Sidroth) eingeteilt sind. Das erste Buch hat 12 Kapitel, das zweite, dritte und vierte hat je 10 Kapitel, während das fünfte 11 Kapitel hat. Jedes Kapitel (— Sidrah) ist wiederum in 8 Abschnitte - Parchoth - eingeteilt. An jedem Sabbat der 52 Wochen im Jahr wird eine Sidrah aus der Thora vorgelesen, und nur am Ende dieser Periode liest man 2 kurze Sidroth zusam­men an einem Sabbat. Jede Vorlesung wird mit dem Ausheben eingeleitet.
Einer der Andächtigen wurde von dem Synagogendiener gebeten, den Thoraschrank zu öffnen. Während
der Vorbeter das dazu gehörende Gebet laut vorsagte, ging der Mann die Stufen zum Schrank hinauf, zog den Vorhang zurück und öffnete die beiden Türen. Ungefähr 7-8 Thorarollen, in Samtmänteln und mit Silberschmuck gekrönt, befinden sich im Schrank. Inzwischen bestiegen auch der Vorbeter und der Gemeindevorsteher (= Parnass) die Stufen und außerdem noch ein Mann, der dazu aufgefordert wurde.
Der Öffner überreichte dem Vorbeter die erste Thora und dem anderen Mann die zweite Rolle. Nur zwei wurden herausgenommen. Der Öffner ging an seinen Platz zurück. Die Prozession der drei Männer mit den beiden Thorarollen ging nun zum Thora-Vorlesetisch (— dem Almemor) unter dem allgemeinen Singen der dazu geschriebenen Hymnen. Das war das „Ausheben". Nun beginnt das „Ausrufen". Während der Vorbeter die erste Rolle auf den Vorlesetisch legte und Schmuck und Mantel entfernte, setzte sich der Mann mit der zweiten Rolle auf die hintere Bank des Almemor. Der Vorbeter entfernte die Wimpel, die die Doppelrolle zusammenhalten, und er entrollte die Thora nach links und rechts, bis er das gewünschte Kapitel zum Vorlesen vor sich hatte. Inzwischen hatte der Synagogendiener 8 Männer als Beistand zu den 8 vorzulesenden Abschnitten ausgewählt und dem Parnass deren Namen zugeflüstert. Als erster wurde ein „Kohen" bei seinem hebräischen Namen von dem Vorbeter zur Thora aufgerufen.
Ein „Kohen" ist ein Mann, der durch mündliche Überlieferung der Jahrhunderte angeblich vom Hause der Oberpriester des früheren Tempels abstammt. Dazu gehören meistens die Familien mit Namen wie Kohen, Cohn, Kahane, Kahn, Katz, Katzenstein und andere. Dieser Mann, der als erster nun aufgerufen war, nahm einen Tzizith seines Taliths in die Hand, und mit einer Handbewegung von der Thora zum Mund küßte er die heilige Schrift. Danach sagte er den vorgeschriebenen Segensspruch. Dann las der Vorbeter den ersten Abschnitt aus der Sidrah des Tages. Als das beendet war, küßte der Kohen die Thora und sagte einen Segensspruch zum Abschluß. Nun ließ er sich von dem Vorbeter zuflüstern, wer in seiner Familie etwa krank ist oder als Gast in seinem Hause weilt, um für sie und alle Familienmitglieder den Segen Gottes zu erbitten. Hatte der Vorbeter auch eine Spende für die Gemeinde oder einen besonderen wohltätigen Zweck für die ihm gewährte Ehre versprochen, so wurde dies nach der Segensbitte laut bekanntgegeben.
Als zweiter wurde immer ein „Levi" aufgerufen. Er stammte angeblich aus dem Hause der Leviten ab, die im Tempel die Gehilfen der Oberpriester (Kohanim) waren. Da in Schenklengsfeld keiner von ihnen wohnte, konnte nun irgendein anderer Mann als zweiter aufgerufen werden, es sei denn, daß zufällig ein Gast mit diesem Titel zugegen war. Dem ersten folgten noch sechs Männer, in deren Beisein je ein Abschnitt des wöchentlichen Kapitels aus der Thora vorgelesen wurde, und jedesmal mit dem oben beschriebenen Ritus
der Fürbitten mit den Spenden.
Der letzte Abschnitt wurde aus der zweiten Thorarolle gelesen, während zwei andere dazu geladene
Männer die erste Rolle mit Gebetsbegleitung vom Tisch hoben, wobei der eine sie sitzend aufrecht hielt
und der andere sie wieder zusammenrollte und mit Mantel und Schmuck bekleidete.
Der achte Mann, der letzte, welcher Beistand beim Thora-Vorlesen war, war jemand, der die Haftara sagen konnte, die zum Abschluß vorgelesen wurde, während die zweite Rolle gewickelt und gekleidet wurde. Die Thora wurde in einem besonderen Tonfall gelesen, der dem Vorbeter natürlich sehr geläufig war, aber von anderen oft erst eingeübt werden mußte. Die Haftara dagegen, die wöchentlich einmal gelesen wurde, ist ein Kapitel aus dem Buch der Propheten und wird in einer besonderen Melodie vorgetragen, für die eine gewisse Vorbereitung nötig ist. Vor- und nachher wurden natürlich die dazu vorgeschriebenen egenssprüche gesagt.
Nun muß aber noch etwas über die Art des Aufrufens hinzugefügt werden, um es dem Laien verständlich zu machen: zu gewissen Familienfeiern wurden Verwandte von nah und fern eingeladen, den Sabbat oder Festtag als Gast in Schenklengsfeld zu verbringen. Natürlich war der feierliche Gottesdienst in der
Synagoge der Höhepunkt der Festlichkeit. Bei solchen Gelegenheiten bat der Gastgeber den
Synagogendiener (= den Schamus), ihm alle oder eine Anzahl der mit dem Ein-Ausheben und Aufrufen verbundenen Ehren und Würden zu überlassen, und er verteilte diese dann an seine Gäste. Es gab aber
auch in der Synagoge eine Hängetafel mit einer Anzahl von ausziehbaren Metallschildern, auf denen die verschiedenen Ehren bezüglich der Thoravorlesungs-Zeremonie vermerkt waren. Ein Schildchen wurde Liah und mehrere Lioth genannt.
Der Gastgeber konnte auf diese Weise oder auch auf die vorher beschrie­bene Art so viele dieser Lioth für sich in Anspruch nehmen, wie er wollte, solange ein anderer sie nicht schon genommen hatte, mußte aber nach dem Sabbat einen gewissen festgesetzten Betrag dafür dem Gemeinde-Rech­nungsführer zahlen. Geldangelegenheiten wurden ja am Sabbat nicht erledigt und besprochen. Sie waren Ehrensachen und bedurften keiner späteren Mahnung. Nachdem der Gastgeber das Monopol für die Morgenandacht für sich
und seine Gäste erhalten hatte, verteilte er die Lioth an seine Gäste. Diese wiederum zeigten ihre Dankbarkeit für die ihnen erwiesene Ehre darin, daß sie dem Vorbeter die Höhe ihrer Spende zuflüsterten
und die Namen der in die Fürbitten Einzuschließenden nannten. Es wurde jedoch nicht von Markbeträgen gesprochen, sondern von Pfund Wachs. Angeblich hatte der Synagogendiener seine eigene Methode, die Höhe der verschiedenen Spenden im Kopf zu behalten, aber aufgeschrieben hat er bestimmt nichts.
Nach dem Vortragen der Haftara setzte der Vorbeter vom Almemor aus den Gottesdienst mit bestimmten Lobesliedern fort. Dazu gehörten auch die Gebete für das Vaterland und den Landesherrn. Unter dem allgemeinen Gesang der Gemeinde brachte nun die Prozession die beiden Thorarollen zum Heiligen Schrank zurück, dort wurden sie von dem vorher genannten Öffner in Empfang genommen. Auf dem Weg dorthin,
beim Ausheben und auch beim Einheben, traten die Männer aus ihren Plätzen heraus, um mit ihren Tallis-Tzizoth die vorbeigetragene Thora zu küssen. An besonders feierlichen Sabbattagen oder an verschiedenen Festen sang der Synagogen-Männerchor, der ungefähr 25 Kehlen stark war, die Lieder zur Begleitung des Aus- und Einhebens. Die weiblichen Mitglieder der Gemeinde, die in der oberen Etage dem Gottesdienst beiwohnten, konnten zwar von den balkonartigen Plätzen der Andacht folgen, aber sie hatten keine Berechtigung, irgendwie aktiv daran teilzunehmen. Danach hielt der Vorbeter, der gleichzeitig auch der Lehrer und Seelsorger der Gemeinde war, eine Predigt von der Kanzel. Das geschah aber nur selten oder nur an Festtagen.
Wurde eine Predigt gehalten, folgte nach dem Einheben direkt das Mussaph-Gebet, das so wie die meisten Synagogengebete erst leise von den Andächtigen der Gemeinde (= Kehillah) und danach in der Wiederholung laut von dem Vorbeter gesagt wurde. Vor dem Abschluß der gesamten Sabbat-Morgen-Andacht wurden noch einige Hymnen gesungen, dem folgten das Kiddusch-Gebet und das Schlußgebet und Kaddisch-Sagen. Beim Verlassen des Gotteshauses, wünschte man sich gegenseitig wieder „Gut Schabbes!".
Die Thora-Vorlesungen am Montag und Donnerstag sowie auch die am Neumondstag und an den
Gedenk- und Festtagen während der Woche, ebenso das Mincha-Gebet am Sabbat-Nachmittag, waren weniger zeremoniell, doch würde- und ehrfurchtsvoll. Die Haftarah wurde nur am Sabbat oder an Festtagen während der Morgenandacht gelesen.