Jom Kippur (= Der Tag der Versöhnung)
Es war der heiligste aller heiligen Tage im jüdischen Kalender des Jahres und zwar am 10. Tischri, dem letzten
der Buß- und Bettage. Man ging dem Festtag mit Bescheidenheit und Wohlwollen entgegen. Wer dazu die
Möglichkeit hatte, quittierte kleine Anleihen, die während des Jahres an Bedürftige gemacht wurden, und
löschte deren Schulden aus dem Buch. Dadurch hoffte man, daß die eigene Schuld auch vergeben werden
könnte, wenn man am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott steht. Auch war es üblich, daß ungewollte
Streitigkeiten und eingebildete Beleidigungen vergeben und alle möglichen Feindseligkeiten beendet wurden,
indem man sich mit ausgestreckter Hand oder herzlicher Umarmung entgegenkam. Dazu war aber oft ein
befreundeter Vermittler nötig. So fing der Tag vor dem Fest schon mit einem bescheidenen Gefühl der
Genugtuung im Hinblick auf die Versöhnung an. Nun konnte man IHM mit einer gewissen Erleichterung im
Herzen und mit Seelenruhe am nächsten Tag gegenüberstehen. Auch wurden die Kinder dazu angehalten, sich
in Zukunft besser zu benehmen und besonders ihrem religiösen Studium und auch den täglichen Gebeten mehr
Aufmerksamkeit zu schenken.
So war der Erev Jom Kippur, der Tag davor, die Zeit der körperlichen und auch der seelischen Reinigung. Die
große Mahlzeit des Tages wurde, anstatt wie gewöhnlich am Mittag, am späten Nachmittag kurz vor
Sonnenuntergang eingenommen. Danach fingen die 24 Stunden des Fastens an. Zur gleichen Zeit wurde auch
die besonders große Jom-Kippur-Kerze zur Erinnerung an die Toten angezündet. Diese stand in einem
Sandkübel und brannte bis zum Ausgang des Festes am nächsten Abend. Ausgenommen vom Fasten waren
kleine Kinder und Schwerkranke oder Gebrechliche.
Rechtzeitig betraten die Familienmitglieder das Gotteshaus zum Sühne- und Bußgebet. Als erstes zogen sie die
Schuhe aus und vertauschten sie mit leichten Pantoffeln als Zeichen dafür, daß sie mit nackten Füßen kommen.
Danach kleideten sich die verheirateten Männer in ihre fußlangen weißen Sterbehemden und legten den Tallith
darüber. Auf dem Kopf trugen sie statt des Zylinders ein weißes Käppi.
Während die Männer an allen Feiertagen, mit Ausnahme von Rosh Haschannah und Jom Kippur den Zylinder zur
Synagoge trugen, wurde er an diesen beiden Festtagen zu Hause gelassen. Man kam im einfachen Hut und
wohl auch im Anzug zum Gottesdienst, da an diesen beiden Festen, am Rosch Haschannah zur Morgenandacht
und am ganzen Jom Kippur Abend und Tag, das weiße Sterbehemd mit Käppi getragen wurde.
Es war Brauch, daß eine Frau im ersten Ehejahr dem Mann ein Sterbehemd nähte, um im Tode des Menschen
etwas Selbstverständliches zu sehen und immer „für alle Fälle" bereit zu sein. Nach den Feiertagen wurde das
Hemd mit Gürtel und Käppi persönlich von der Ehefrau wieder gewaschen, gebleicht und gebügelt, eingepackt
und in den Wäscheschrank gelegt in der Hoffnung, daß es bis zum nächsten Versöhnungstag nicht gebraucht
werde.
Gewöhnlich wurde zu Rosch Haschannah und Jom Kippur wegen der außerordentlich langen Gottesdienste ein
Hilfs-Kantor engagiert. Das war meistens ein junger Mann vom Rabbiner-Seminar in Frankfurt oder Würzburg,
dem alle Gebete und Melodien der Gesänge geläufig waren.
Die Abendandacht fing in einer tiefen Stille im Gotteshaus an. Demütig stand die Gemeinde vor Gott. Nun
begann der Kantor im weiß- mit goldbesetzten Ornat mit leise flehender Stimme das Singen des Kolnidre-Gebetes. Es war eine tief erschütternde Melodie, die zweimal im Crescendo wiederholt wurde als ein
Bekenntnis der Sünden, und ein Bitten um Vergebung drang durch das Haus Gottes. Später am Abend und auch
am nächsten Tag wurde das Al-Cheth-Gebet vom Kantor seufzend zitiert mit der lauten Wiederholung des
Kehrreimes „Vergib uns, oh Gott".
So wurde bis spät in die Nacht gebetet. Frauen mit kleinen Kindern verließen schon früher die Synagoge, aber
eine Anzahl der Männer blieb noch bis kurz vor Mitternacht in tiefer Andacht. Nach nur wenigen Stunden Schlaf
waren sie bei Sonnenaufgang wieder im Gotteshaus, während Frauen und Kinder später kamen. Die Familien
verbrachten den ganzen Tag in der Synagoge. Die besonderen Gesetze bezogen sich fast ohne Ausnahme auf
Buße, Reue und Sünde, Bekenntnis und Vergebung sowie Selbstanklage; aber auch Loblieder für Gott, den
Allmächtigen, wurden gesungen, auch das Al-Chet-Gebet wiederholt mit dem lauten Refrain „Vergib uns, oh
Gott". Es bezieht sich auf den Moment, wenn Gott Mose erklärt, daß er die Israeliten vernichten will und Mose
ihn bittet: „Tilge mich aus deinem Buch, das du geschrieben hast", und Gott antwortet ihm: „Ich habe
vergeben, wie du es erbeten hast" (2. Mose 32,32 und 4. Mose 14,20).
Es wurde auch noch einige Male aus der Thora und Haftara vorgelesen. So wie am Rosch-Haschannah wurde die
Gemeinde auch von den Kohanim gesegnet, wobei die Andächtigen nicht nur ihre eigenen Augen mit dem Tallith
bedeckten, sondern auch die Köpfe der Kinder unter 13 Jahren. Es war kein Tag der Trauer, sondern ein
feierlich-freudiges Fest, da man wußte, daß nach der Reue und dem Sündengeständnis Gottes Verzeihung
gewährt und die Gebete mit Wohlwollen angenommen wurden. Dies brachte den Menschen Erleichterung.
Wenn die Sonne am Abend unterging, wurde das Nielah-Gebet gesagt, und danach ging der Tag mit einem
Aufatmen und tiefem Hungergefühl zu Ende.
Nach einem leichten Imbiß zu Hause wurde bald darauf eine volle Mahlzeit aufgetischt. Später am Abend war es
Brauch, daß die jüngeren Mitglieder der Familie Papierketten und andere Dekorationen für die Sukkah des
kommenden Laubhüttenfestes anfertigten.