Yehudith Epstein (Ilse Speier):
„Meine Kristallnächte“
Um zu verstehen, was in der Kristallnacht passierte, muss man zuerst den Hintergrund kennen.
Ich kam in einem kleinen Städtchen, Rotenburg an der Fulda, welches (jetzt) zum Regierungsbezirk Kassel in
Hessen gehört, zur Welt. Zu jener Zeit war die wirtschaftliche Lage meiner Eltern gut und wir wohnten in einem
vierstöckigen Haus an der Hauptstrasse. Im Parterre hatten meine Eltern einen Laden mit zwei großen
Schaufenstern. Im selben Stock war das Wohnzimmer mit zwei Fenstern Richtung Hauptstraße. Die
Schlafzimmer der Familie waren alle im zweiten Stock. Der Rest des Haus wurde vermietet.
Außer der Ware, die meine Eltern im Geschäft verkauften, besaß mein Vater ein Motorrad. Mit dem fuhr er von
Dorf zu Dorf und verkaufte die Ware. Während seiner Abwesenheit führte meine Mutter und Tante Hanna, die
Schwester meines Vaters, den Laden.
Auch meine Großmutter wohnte im selben Ort, in einem großen Haus ganz in der Nähe der Fulda. An dieses
Haus schrieb man für einige Jahre, wie hoch die Fulda jeweils gestiegen war.
Ich war im November 1938 sechseinhalb Jahre. Meine Schwester war acht Jahre älter als ich. Auch meine
Kusinen waren alle älter als ich. So wurde ich natürlich sehr verwöhnt. Im selben Jahr, 1938, kam ich in die
erste Schulklasse.
Ich mag mich an keinen Judenhass uns gegenüber erinnern. Aus Briefen, die meine Eltern später schrieben,
entnahm ich jedoch, dass noch vor der Kristallnacht meinem Vater die Ladenlizenz genommen wurde. Ich kann
mich noch erinnern, dass gemäß dem Rassengesetz vom September 1935 meine Eltern ihre Wohnung in dem
zweiten Stock unseres Hauses an Deutsche abgeben mussten. Das Treppenhaus war uns zur Benutzung
verboten, so baute mein Vater Treppen außerhalb des Hauses, welche direkt zum Laden führten.
Die Kristallnacht in unserem Städtchen begann bereits am 8. November. Oft wurde mir gesagt, dass dies
unmöglich sei, da es erst am 9./10. November begann. Während meines Besuchs in Rotenburg im Jahre 1993
fand ich heraus, dass ich im Recht war.
In der Nacht zum 8. November 1938 waren wir wie üblich schlafen gegangen. Unsere Wohnung war jetzt im
zweiten Stock im Hinterhaus, nicht mehr in Richtung Hauptstrasse, sondern zum Hof hin. Dies war der Grund,
dass wir zunächst nichts hörten.
Ich erinnere mich, dass ich am Morgen im Pyjama vom Schlafzimmer kam und sich das ganze Haus in großer
Unordnung befand: zersprungene Fenster, Leute rannten herum. Mein Vater betete in der Küche, und ich
fragte mich: Warum legt er das Morgengebet in der Küche ab? An jedem anderen Tag ging er doch in die
Synagoge zum Beten! Ich verstand nichts von dem, was um mich herum geschah. Ich sah, dass das Zimmer
meiner Eltern mit Scherben belegt war, so auch die Schaufenster unseres Ladens. Die Vorhänge waren
komplett verbrannt.
Trotzdem sagte mein Vater, dass ich zur Schule gehen muss, so wie an jeden normalen Tag. Ich nahm meine
Schultasche, nahm mein Frühstück und ging zur Schule. Am selben Tag, an dies kann mich sehr gut erinnern,
lernten wir den Buchstaben "p"', welcher ein Buchstabe mit einer besonderen Form ist, und bis zum heutigen
Tag kann ich mich an diesen Buchstaben erinnern.
Nach der Schule ging ich nach Hause. Mein Vater war nicht zu Hause, und meine Tante half meiner Mutter, die
zerschlagenen Fenster mit Holzbrettern zu abzudecken. Was die Deutschen nicht vernichtet hatten, war im
Laden verstreut. Meine Mutter versuchte, so gut es ging, die Türen zu versperren.
In Rotenburg haben sie die Synagoge nicht verbrannt, da sie an Wohnhäuser grenzte, welche zum Teil aus
Holz gebaut waren. Aber alles in der Synagoge wurde zerstört. Zeugen erzählten mir während meines Besuchs
im Jahre 1993, welchen ich nach 55 Jahren Abwesenheit unternahm, dass nichts von der Synagoge gerettet
werden konnte. Heute hat es an diesem Ort eine Tafel mit den Worten: "Hier stand die jüdische Synagoge".
Uns war bewusst, dass wir Rotenburg verlassen mussten. Die Wertsachen, welche wir nicht mitnehmen
konnten, Kristallsachen und Service, gab meine Mutter einer nicht-jüdischen Nachbarin zur Aufbewahrung. Ich
nehme an, dass sie in gutem Einvernehmen mit ihr stand.
Meine Mutter sagte mir: "Wir ziehen in den nahe gelegenen Ort Hersfeld. Dort hat Tante Nussbaum - die
Schwester meiner Mutter, sie wohnte vorübergehend bei uns in Rotenburg - ein Haus. Wir fahren spät und
betreten das Haus leise, damit die Nachbarn in Hersfeld nichts von unserer Ankunft merken." Wir fuhren nach
Hersfeld: meine Mutter, ihre Schwester, meine Großmutter mit Tochter Hanna, meine Schwester und ich -
sechs Menschen. Vater war schon früher nach Hersfeld gefahren und hatte sich bei einem Bekannten
versteckt.
Meine Eltern verstanden zur dieser Zeit noch nicht, dass dies ein Ende im Kapitel ihres Leben war. Ich verstand
sicherlich nichts. Als wir Hersfeld erreichten, war es schon dunkel und wir betraten das Haus meiner Tante
ganz still.
Mein Vater hatte Angst, mit den Gebetsriemen in der Tasche zu fahren. Sollte er erwischt werden, war es klar,
dass er ein Jude ist. Auch Waschsachen hatte er nicht mit in sein Versteck genommen, auch keinen Pyjama
und Unterwäsche. Da meine Tante Hanna nicht jüdisch aussah, wurde beschlossen, dass sie ihrem Bruder die
Gebetsriemen bringen soll. Sie bat mich mitzukommen. Auf dem Weg sahen wir die Synagoge von Hersfeld in
Flammen stehen, die Hitlerjugend feierte ein großes Fest, und wir, meine Tante und ich, gingen durch die
Straßen, als ob dies alles uns nicht berührte. Dieser Weg erschütterte mich zutiefst.
Mein Vater sagte zu uns: "Bleibt nicht in Hersfeld, sonst werden sie Euch morgen ermorden. Ich gehe morgen
nach Frankfurt, dies ist eine große Stadt mit tausenden von Menschen und auch vielen Juden. Ich werde dort
ins Krankenhaus gehen.“ Seit er in der kaiserlichen Armee im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, war mein Vater
behindert. Auf einem Ohr war er taub und im rechten Arm hatte er eine Verwundung von einer Kugel, die ihn
getroffen hatte. Diese Verwundung war auch nach vielen Jahren nie ganz verheilt. Mein Vater litt darunter.
Aber er war sehr stolz, dass er für sein Vaterland und den Kaiser gekämpft hatte. Sein ganzes Leben lang, wie
man von den Bildern, die ich von ihm habe, sehen kann, trug er am Kragen immer das Ehrenzeichen, welches er
in seiner deutschen Heimat erhalten hatte. In den ersten Tagen nach der Kristallnacht half ihm dieses
Ehrenzeichen, es war wohl auch ein Grund dafür, dass man ihn im Krankenhaus als Patient aufnahm. Er lag dort
einige Tage, und dies bewahrte ihn vor Buchenwald oder Dachau, wohin man in diesen Wochen die meisten
jüdischen Männer brachte.
Da mein Vater zu uns gesagt hatte, ‚Fahrt nach Frankfurt!’, reisten wir am nächsten Tag am frühen Abend
nach. Ich habe keine Ahnung, woher meine Eltern den Schlüssel für eine Wohnung hatten oder wem die
Wohnung gehörte. Wir ließen uns dort nieder. Auch in Frankfurt kamen wir am Abend an, damit niemand von
unserer Ankunft Wind bekommt. In Frankfurt fanden wir die Stadt in Flammen, viel Rauch und Geruch.
Wahrscheinlich war unsere Wohnung in der Nähe von anderen Judenhäusern, sodass wir aus der Nähe sehen
konnten, wie die Synagogen niedergebrannt wurden. Dies war das dritte Mal, dass ich die Kristallnacht
miterlebte, dieses Mal wirklich am 10. November 1938.
Ich erinnere mich an die Panik und Hilflosigkeit, dass unser Leben nicht in unseren Händen lag und dass jeder
mit uns machen kann, was er will. Bis dahin waren wir unsere eigenen Meister. Alles stand in unserer Macht.
Und plötzlich konnte jeder auf der Strasse mit uns machen, was er wollte. Im Gegenteil, die wurden für ihre
Vergehen noch gelobt.
Am nächsten Tag ging meine Mutter ins Krankenhaus, um Vater zu treffen. Sie beschlossen, dass wir nichts in
Frankfurt verloren haben und dass wir ins Haus der Tante in Hersfeld zurückkehren, um dort das Ende des
Zorns abzuwarten.
Meine Eltern wohnten in dieser Wohnung am Hanfsack 2 in Hersfeld bis Mitte Mai 1939. Warum sie nicht nach
Rotenburg zurück kehrten? Sie waren überzeugt, dass man sie dort in ein Lager abschieben würde. Und
Hersfeld war doch ein größerer Ort, auch waren die Eltern dort unbekannt. Die Tante war Witwe, ihr Mann fiel
im Ersten Weltkrieg, deshalb bekam sie ein wenig Ehre. In Kürze, die Eltern beschlossen in der Zwischenzeit, in
Hersfeld zu wohnen.
Großmutter war überzeugt: Sollte von Rath, welcher angeblich der Grund für den Gewaltausbruch war, nicht
sterben, dann wird es für die Juden wieder besser kommen. Großmutter war 80 Jahre alt und glaubte an die
Deutschen. Sie war in dem kleinen Städtchen Rotenburg an der Fulda aufgewachsen und ihre Familie hatte
dort schon seit Generationen gelebt. Weshalb sollten die Deutschen die Juden hassen? So saß sie den ganzen
Tag und betete, dass von Rath nicht stirbt. Dieses Bild bleibt mir stets in Erinnerung - Großmutter sitzt in der
Ecke und betet.
Meine Schwester und ich blieben nicht lange in Hersfeld. Nachdem sich die Lage etwas beruhigt hatte und
Vater von Frankfurt nach Hersfeld zurückgekehrt war, schickte er uns nach Frankfurt ins Waisenhaus. Dies war
es dann auch, was meine Schwester und mich vor dem bösen Schicksal verschonte. Als wir in Palästina mit
dem letzten Kindertransport ankamen, war es April 1940.
(Der Bericht wurde sprachlich leicht überarbeitet, H.N.)