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Projekt Samuel Spiro
"Ich bin geboren im Jahre 1885 im Dorfe Schenklengsfeld, im Kreise Hersfeld, Rabbinatsbezirk Fulda, Regierungsbezirk Kassel, Provinz Hessen-Nassau, Königreich Preußen. Bis zum Jahre 1866 gehörte dieser Bezirk zum Kurfürstentum Hessen, das nach dem siegreichen Kriege Preußens gegen Österreich und dessen deutsche Bundesgenossen von Preußen annektiert wurde. Noch bis zum Jahre 1914 gab es in Hessen-Nassau eine hessische Rechtspartei, die diese Annektion nicht anerkannte und sogar eigene Kandidaten für den deutschen Reichstag aufstellte. Sie konnte allerdings zuletzt nur noch 400 Stimmen auf sich vereinigen, ein Beweis, daß sich die Bevölkerung fast restlos mit dem Anschluß an Preußen abgefunden hatte. Insbesondere unter den hessischen
Juden, deren Zahl ziemlich erheblich war, und die in zahlreichen größeren und kleineren Gemeinden zusammengeschlossen waren, gab es keinerlei Opposition gegen Preußen. Man setzte große Hoffnungen auf den Kronprinzen Preußens, der zugleich Kronprinz des Deutschen Reiches war und der sich wiederholt unzweideutig
für die praktische Gleichberechtigung der Juden und gegen den Antisemitismus aussprach, den er als die Schmach des Jahrhunderts bezeichnete.
Gerade die Juden in Hessen, der Hochburg des Antisemitismus in Deutschland, blickten in gläubigem Vertrauen zu diesem Fürsten auf. Aber schon im Jahre 1888, drei Monate nach seinem Regierungsantritt, erlag er einer tückischen Krankheit, und mit ihm sanken viele jüdische Hoffnungen ins Grab. Sein Nachfolger, der unselige Kaiser Wilhelm II., zeigte wenig Sympathie für seine jüdischen Staatsbürger."
Samuel Spiro in seinen "Jugenderinnerungen aus hessischen Judengemeinden":