"Ich bin geboren im Jahre 1885 im Dorfe Schenklengsfeld, im Kreise Hersfeld, Rabbinatsbezirk Fulda,
Regierungsbezirk Kassel, Provinz Hessen-Nassau, Königreich Preußen. Bis zum Jahre 1866 gehörte dieser Bezirk
zum Kurfürstentum Hessen, das nach dem siegreichen Kriege Preußens gegen Österreich und dessen deutsche
Bundesgenossen von Preußen annektiert wurde. Noch bis zum Jahre 1914 gab es in Hessen-Nassau eine
hessische Rechtspartei, die diese Annektion nicht anerkannte und sogar eigene Kandidaten für den deutschen
Reichstag aufstellte. Sie konnte allerdings zuletzt nur noch 400 Stimmen auf sich vereinigen, ein Beweis, daß sich
die Bevölkerung fast restlos mit dem Anschluß an Preußen abgefunden hatte. Insbesondere unter den hessischen
Juden, deren Zahl ziemlich erheblich war, und die in zahlreichen größeren und kleineren Gemeinden
zusammengeschlossen waren, gab es keinerlei Opposition gegen Preußen. Man setzte große Hoffnungen auf den
Kronprinzen Preußens, der zugleich Kronprinz des Deutschen Reiches war und der sich wiederholt unzweideutig
für die praktische Gleichberechtigung der Juden und gegen den Antisemitismus aussprach, den er als die Schmach
des Jahrhunderts bezeichnete.
Gerade die Juden in Hessen, der Hochburg des Antisemitismus in Deutschland, blickten in gläubigem Vertrauen zu
diesem Fürsten auf. Aber schon im Jahre 1888, drei Monate nach seinem Regierungsantritt, erlag er einer
tückischen Krankheit, und mit ihm sanken viele jüdische Hoffnungen ins Grab. Sein Nachfolger, der unselige Kaiser
Wilhelm II., zeigte wenig Sympathie für seine jüdischen Staatsbürger."
Samuel Spiro in seinen
"Jugenderinnerungen aus
hessischen Judengemeinden":