(oben, rechts im Bild) Das Schul- und Lehrerhaus
der jüdischen Gemeinde von Schenklengsfeld bis
1890 bzw. 1913. Hier lebte und wirkte Samuel
Spiros Vater von 1879 bis 1900.
(unten) Die 1890 erbaute jüdische Schule von
Schenklengsfeld (Rekonstruktionszeichnung)
Samuel Spiro in seinen
"Jugenderinnerungen
aus hessischen
Judengemeinden":
"Mein Vater hatte als Amtsnachfolger meines
Großvaters sich bald dieselbe Stellung in der
Gemeinde errungen wie mein Großvater. Obwohl die
Mehrzahl der Gemeindemitglieder, mit denen
zusammen er aufgewachsen war, ihn mit „Du"
anredeten, wußte er zwischen sie und sich eine
Distanz zu legen, die jeden Versuch einer plumpen
Vertraulichkeit im Keime erstickte. Niemand wagte,
ihn mit seinem Vornamen zu nennen, selbst seine
gleichaltrigen Mitschüler, die er selbstverständlich
mit ihren Vornamen anredete, nannten ihn „Spiro".
Aber das tat den guten Beziehungen zu ihnen keinen
Abbruch. An Wissen kam er seinem Vater gleich. Er
war ein Talmid-Cha-cham (= Schriftgelehrter),
beherrschte Französisch und Englisch, und noch im
Alter von mehr als 50 Jahren lernte er Lateinisch. An
Begabung war er seinem Vater vielleicht noch
überlegen, er war ein ausgezeichneter Redner und ein
gefürchteter Debattierer. Diese Begabung war meines
Erachtens nicht immer segensreich, denn er kannte
seine
geistige und rednerische Überlegenheit nur zu gut
und nutzte sie nicht selten zu diktatorischem
Verhalten aus. Trotzdem war er in der Gemeinde
beliebt, denn man schätzte sein Wissen und seine
Hilfsbereitschaft, die den Gemeindemitgliedern
gegenüber keine Grenzen kannte. Es war eine
geläufige Redensart in der Gemeinde: „Ohne Spiro
darf niemand heiraten, niemand krank sein, niemand
sterben." Aber auch bei den Nichtjuden nahm er eine
sehr angesehene Stellung ein. Vor patriotischen
Festen, wie Kaisers Geburtstag, Feier des Sieges von
Sedan, erschienen bei ihm die Vorsitzenden der
patriotischen Vereine, Bauern oder Handwerksmeister,
um sich ihre Festreden von ihm entwerfen zu lassen.
Eingaben an Behörden hat er wohl zu Hunderten
abgefaßt, sowohl für Juden als für Nichtjuden. Die
jüdischen wie die christlichen Lehrer des Bezirks
Waren ihm in Freundschaft verbunden.
So war denn das Bedauern groß, als er im Jahre 1899
als Lehrer an die neugegründete jüdische Volksschule
in Fulda versetzt wurde. Ein Schenklengsfelder
Jugendfreund sagte ihm damals in hessisch-jüdischer
Mundart: „Wenn's de gestorbe wärscht, hätten mer
uns getrejscht (getröstet) und gesagt: Es is min
Haschomajim (= Es kommt vom Himmel), awer, daß de
uns zu Lebzeiten verlaßt, das verstehen mer net." Ich
bin sicher, daß er sich manchmal nach seiner alten
Gemeinde zurückgesehnt hat, sein Leben bekam mit
seiner Versetzung nach Fulda einen Bruch, der niemals
ganz verheilt ist.