"Der Viehhandel hatte einen
außerordentlichen Umfang angenommen.
Auf den Viehmärkten in Hersfeld und Fulda
trafen sich Hunderte von Juden und Bauern
aus der näheren und weiteren Umgebung,
und dort konnte man die Geschicklichkeit
der jüdischen Viehhändler und die Schläue
und Hartnäckigkeit der Bauern beobachten.
Flüche, die nicht ernst gemeint waren,
Schwüre, die nie gehalten wurden, flogen
hin und her. Man trennte sich nach langem
vergeblichen Handeln mit dem Schwure, nie
wieder miteinander in Geschäftsverbindung
zu treten, um nach wenigen Schritten die
Verhandlungen wieder aufzunehmen und
zum Abschluß zu bringen. Ich hörte einmal
einen Viehhändler schwören: „Ich will gleich
verrecke ufm Platz und mein Joches soll
zuerscht kappore gehn (= "und mein Arsch soll
zuerst kaputt gehen"), wenn ich mit dir noch
emol handel." Mit diesen Worten ließ
er seinen Geschäftspartner stehen, um gleich
darauf zu neuem Verhandeln zu ihm
zurückzukehren. Ein anderer beliebter
Schwur war: „Hier will ich blind wern",
wobei sie auf ihre Brust deuteten, oder:
„Ich will net gesund zu Kewer Jsroel
komme." (= Ich will nicht das Glück haben,
jüdisch beerdigt zu werden.) Ein besonders
häufig
angebrachter Schwur war: „Maneschome",
eine verdorbene Wortbildung aus „meine
Neschome" („meiner Seel", zu deutsch).
Zur Verstärkung einer Verneinung diente
das Wort „Osser" (= Verboten).
Ich war einmal Zeuge einer komischen Szene
in der Eisenbahn, als zwei Viehhändler
während ihrer Unterhaltung die Station
Fulda, wo Viehmarkt war, übersehen
hatten und in Richtung Hersfeld
weitergefahren waren. Der eine rief, als er
seinen Irrtum bemerkte: „Ich spring
maneschome aus'm Zug", während der
andere, nicht minder aufgeregt, schrie: „Du
springst osser net aus'm Zug." Diese
Ausrufe wiederholten sich einige Male,
ohne daß etwas geschah. Auf der nächsten
Station stiegen sie friedlich aus.
Für mich war es ein besonderes Vergnügen,
dem Treiben auf den Viehmärkten zuzusehen,
und ich habe manche Schulstunde versäumt,
um Zeuge dieser interessanten
Verhandlungen zu sein. Dabei habe ich
mehr Einblicke in das Volksleben gewonnen
als durch lange Abhandlungen. Die Sprache
dieser hessischen Dorfjuden war ein
seltsames Gemisch von verdorbenem
Deutsch und ebenso
verdorbenen hebräischen Brocken, sie
hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem
Jiddischen. Für Nichtjuden und auch für
Juden aus
anderen Landesteilen war es eine fast
unverständliche Sprache. [...] Mit
Fremdwörtern standen die Juden auf
Kriegsfuß, entweder wurden sie völlig
verkehrt angewandt oder entstellt, so
„Spenditar" statt „Spediteur", „Kredition"
statt „Diskretion" oder gar „Republik"
statt „publik". Eine beliebte Redensart war:
„Ich hän driver nachsimuliert
(nachgedacht)." Mit den Bauern redeten
diese Viehhändler und Hausierer im
Bauerndeutsch, das sie vollkommen
beherrschten.
Fast während der ganzen Woche waren die
Viehhändler unterwegs, und erst am
Donnerstag nachmittag oder Freitag
morgen kehrten sie - oft mit Vieh, das sie
gekauft hatten - nach Hause zurück. Da fast
alle diese Juden gesetzestreu waren und
nur streng koscher lebten, mußten sie sich im
Essen
große Entbehrungen auferlegen, denn in
den Bauerndörfern gab es keine koscheren
Mahlzeiten. Von der spartanischen
Lebensweise dieser Händler kann man sich
kaum eine Vorstellung machen. Sie lebten
fast die ganze Woche hindurch von Brot,
Wurst, die sie mit auf die Reise nahmen,
schwarzem Kaffee (Milch tranken sie
unterwegs nicht) und Früchten.
Selbstverständlich hatte jeder seine Tefillin
bei sich, und die Bauern waren daran
gewöhnt, daß ihre jüdischen
Geschäftsfreunde bei ihnen Tefillin legten.
Ich bin sicher, daß keiner dieser
Viehhändler aus jener Generation sich je
rasiert hat. Am Freitag wurde der Bart mit
der Schere gezwickt oder mit dem bestialisch
riechenden Schwefelbarium entfernt.
Der Fuldaer
Viehmarkt um 1930
.Der Fuldaer
Viehmarkt wurde -
unter den
damaligen
Verhältnissen eine
bemerkenswerte
Ausnahme - bis
zum Jahr 1935
weitgehend von
Juden betrieben.
(Ausschnitt aus
einem Gemälde
von F. Ramholz)