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Projekt Samuel Spiro
"Der Viehhandel hatte einen außerordentlichen Umfang angenommen.
Auf den Viehmärkten in Hersfeld und Fulda trafen sich Hunderte von Juden und Bauern aus der näheren und weiteren Umgebung, und dort konnte man die Geschicklichkeit
der jüdischen Viehhändler und die Schläue und Hartnäckigkeit der Bauern beobachten. Flüche, die nicht ernst gemeint waren, Schwüre, die nie gehalten wurden, flogen
hin und her. Man trennte sich nach langem vergeblichen Handeln mit dem Schwure, nie wieder miteinander in Geschäftsverbindung zu treten, um nach wenigen Schritten die Verhandlun­gen wieder aufzunehmen und
zum Abschluß zu bringen. Ich hörte einmal einen Viehhändler schwören: „Ich will gleich verrecke ufm Platz und mein Joches soll zuerscht kappore gehn (= "und mein Arsch soll zuerst kaputt gehen"), wenn ich mit dir noch emol handel." Mit diesen Worten ließ
er seinen Geschäftspartner stehen, um gleich darauf zu neuem Verhandeln zu ihm zurückzukehren. Ein anderer beliebter Schwur war: „Hier will ich blind wern", wobei sie auf ihre Brust deuteten, oder:
„Ich will net gesund zu Kewer Jsroel komme." (= Ich will nicht das Glück haben, jüdisch beerdigt zu werden.) Ein besonders häufig
angebrachter Schwur war: „Maneschome",
eine verdorbene Wortbildung aus „meine Neschome" („meiner Seel", zu deutsch).
Zur Verstärkung einer Verneinung diente
das Wort „Osser" (= Verboten).
Ich war einmal Zeuge einer komischen Szene
in der Eisenbahn, als zwei Viehhändler
während ihrer Unterhaltung die Station Fulda, wo Viehmarkt war, übersehen
hatten und in Richtung Hersfeld weitergefahren waren. Der eine rief, als er seinen Irrtum bemerkte: „Ich spring maneschome aus'm Zug", während der andere, nicht minder aufgeregt, schrie: „Du springst osser net aus'm Zug." Diese
Ausrufe wiederholten sich einige Male,
ohne daß etwas geschah. Auf der nächsten
Station stiegen sie friedlich aus.
Für mich war es ein besonderes Vergnügen, dem Treiben auf den Viehmärkten zuzusehen, und ich habe manche Schulstunde versäumt,
um Zeuge dieser interessanten Verhandlungen zu sein. Dabei habe ich
mehr Einblicke in das Volksleben gewonnen als durch lange Abhandlungen. Die Sprache dieser hessischen Dorfjuden war ein seltsames Gemisch von verdorbenem Deutsch und ebenso
verdorbenen hebräischen Brocken, sie
hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit dem Jiddischen. Für Nichtjuden und auch für Juden aus
anderen Landesteilen war es eine fast unverständliche Sprache. [...] Mit Fremdwörtern standen die Juden auf
Kriegsfuß, entweder wurden sie völlig
verkehrt angewandt oder entstellt, so „Spenditar" statt „Spediteur", „Kredition"
statt „Diskretion" oder gar „Republik"
statt „publik". Eine beliebte Redensart war:
„Ich hän driver nachsimuliert (nachgedacht)." Mit den Bauern redeten diese Viehhändler und Hausierer im Bauerndeutsch, das sie vollkom­men beherrschten.
Fast während der ganzen Woche waren die Viehhändler unterwegs, und erst am Donnerstag nachmittag oder Freitag
morgen kehrten sie - oft mit Vieh, das sie gekauft hatten - nach Hause zurück. Da fast alle diese Juden gesetzestreu waren und
nur streng koscher lebten, mußten sie sich im Essen
große Entbehrungen auferlegen, denn in
den Bauerndörfern gab es keine koscheren Mahlzeiten. Von der spartanischen
Lebensweise dieser Händler kann man sich kaum eine Vorstellung machen. Sie lebten fast die ganze Woche hindurch von Brot, Wurst, die sie mit auf die Reise nahmen, schwar­zem Kaffee (Milch tranken sie unterwegs nicht) und Früchten. Selbstverständlich hatte jeder seine Tefillin bei sich, und die Bauern waren daran gewöhnt, daß ihre jüdischen Geschäftsfreunde bei ihnen Tefillin legten. Ich bin sicher, daß keiner dieser
Viehhändler aus jener Generation sich je rasiert hat. Am Freitag wurde der Bart mit der Schere gezwickt oder mit dem bestialisch riechenden Schwefelbarium entfernt.



  
Samuel Spiro in seinen "Jugenderinnerungen aus hessischen Judengemeinden":
  
Der Fuldaer Viehmarkt um 1930 .Der Fuldaer Viehmarkt wurde - unter den damaligen Verhältnissen eine bemerkenswerte Ausnahme - bis zum Jahr 1935 weitgehend von Juden betrieben.
(Ausschnitt aus einem Gemälde von F. Ramholz)
  
Der Fuldaer Viehmarkt auf der sog. Ochsenwiese ca. 1900
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