"Bereits eine Stunde vor Schabbatanfang
spazierten die Männer in ihren
Schabbatanzügen durch die Dorfstraßen, und
geraume Zeit vor Beginn des Gottesdienstes
versammelte man sich im Hof der Synagoge,
wo die Tagesereignisse besprochen und die
Erlebnisse aus der verflossenen Woche
erzählt wurden. Während des Gottesdienstes
herrschte eine wahre Andacht. Der
Gottesdienst war feierlich und würdig und
streng traditionell. [...] Der strenge
Gemeindevorsteher, Parnas genannt,
duldete keine Unterhaltungen, und nicht
selten wurden Ruhestörer von ihm mit
Geldstrafe belegt, die er bis zu einer
gewissen Höhe verhängen durfte.
Das geschah mit den Worten: „Sie sind
gestraft
um ein Pfund Wachs." Wachs war das
Materiajjiach dessen Preis die Strafe
gerechnet wurde.
Die Vorstandsämter in den Dorfgemeinden
wurden nicht nach Besitz, sondern nach
Würdigkeit verliehen. Die Vorsteher wurden
nicht gewählt, sondern durch das
„Vorsteheramt der Israelitin", deren es in
Hessen vier gab, ernannt. Das "Vorsteheramt
der Israeliten" war eine staatlich anerkannte
Institution, an deren Spitze ein
Provinzialrabbiner stand. Er hatte große
Vollmachten, die besonders wenn der
Rabbiner ein energischer Mann war, zur
Diktatur über die Gemeinde führen konnten,
im Rabbinatsbezirk Fulda auch dazu führten.
Besonders lebhaft sind mir in Erinnerung
geblieben die Nacht des Schawuotfestes und
die Nacht vor Hoschana Rabba (= 7. Tag des
Laubhüttenfestes). In diesen Nächten war die
ganze Gemeinde zum „Lernen" versammelt,
jeder in seiner „Chewre"(= Gruppe, Verein).
Das „Lernen" fand in
Privathäusern statt; die Tische waren festlich
gedeckt und besetzt mit allen möglichen
Früchten und Gebäck. Um Mitternacht gab es
Kaffee und Kuchen. Mein Vater mußte sich in
jeder der „Chewrot" eine Zeitlang aufhalten,
und ich durfte ihn begleiten. Das waren für
mich herrliche Nächte, weniger wegen des
Lernens, als wegen der Süßigkeiten, die ich
mir zuführen durfte. Jede Familie, bei der
das Lernen stattfand, suchte ihr Bestes an
Darbietung von Speis und Trank zu geben,
und am darauffolgenden Tage wurde im
Synagogenhof Kritik geübt. Auch das
„Kapores" Schlagen war bei mir sehr beliebt,
denn ich sah während des „Schlagens" die
Hühner im Geiste schon gekocht und
gebraten. Die Gemeinde bildete im Grunde
eine große Familie. Familienfeste waren
Feste der ganzen Gemeinde. Bei Todesfällen
herrschte Trauer in allen Häusern. Am Tage
der Beerdigung kehrten alle nach Hause
zurück, um an der Lewaja (= Beerdigung)
teilzunehmen. Während der Schiwe brachte
jede Besucherin Kuchen oder Geflügel in das
Trauerhaus. Während der Schiwe um den
Vater meiner Mutter standen wir Kinder fast
den ganzen
Tag vor dem Hause, und wenn wir eine
Besucherin sich nahen sahen, stürzten wir
aufgeregt ins Zimmer mit den Worten:
„Mama, es kommt wieder eine Frau mit
einem Korb in der Hand." Die
Gemeindemitglieder waren zum größten
Teil „Amrazzim", Ungebildete, die zwar die
hebräischen Gebete mehr oder weniger
richtig hersagen konnten, ihren Inhalt aber
nicht verstanden, was übrigens ihrer Andacht
keinen Abbruch tat. Wir von der jüngeren
Generation, die wir in der Schule schon
hebräische Grammatik lernten, machten uns
ein besonderes Vergnügen daraus, die Fehler
festzustellen, die die Großen machten, wenn
sie am Jahrzeitstage vorbeten durften. Nur
ein ganz kleiner Teil der Gemeindemitglieder
hatte den Ehrgeiz, auch etwas von dem zu
verstehen, was sie beteten. In
Schenklengsfeld versammelten sich am
Freitag abend und am Schabbat mittag etwa
zehn Männer in unserem Hause, wo mein
Vater mit ihnen Kizzur (= Kizzur Schulchan
Aruch, Handbuch der Religionsgesetze) und
Mischnajot (= Abschnitte im Talmud) lernte. Von
uns Kindern wurden sie die „Lerner" genannt.
Sie betrieben dieses Studium mit großem
Eifer, und es war rührend mitanzusehen, wie
diese abgearbeiteten, müden Männer am
Munde meines Vaters hingen, um Toraworte
von ihm zu vernehmen.
Ich mußte mich schon als kleiner Junge an
diesen Lernsitzungen beteiligen. Mein Vater
hatte - leider - den Ehrgeiz, einen großen
Talmudgelehrten aus mir zu machen.
So wurde ich gezwungen, schon im Alter von
vier Jahren hebräisch lesen zu lernen, im
Alter von fünf Jahren lernte ich Chumosch
(=die Fünf Bücher Mose) übersetzen und im
Alter von sechs Jahren einen Abschnitt
Mischnajot. Durch diesen Zwang hat mein
Vater das Gegenteil von dem erreicht, was er
beabsichtigte. Mir wurde das Hebräischlernen
allmählich zum Greuel, und als mein Vater
mich nach Absolvierung des Gymnasiums
gegen meinen Willen auf die Breuersche
Jeschiwe in Frankfurt schickte, war das
Resultat, daß ich schon nach zweimonatigem
Aufenthalt in dieser
stickigen Atmosphäre das Weite suchte und
es von da ab 30 Jahre lang - in Erinnerung
an die Quälereien in der Jugend - nicht über
mich gewinnen konnte, auch nur in ein
hebräisches Buch hineinzusehen.[...]
Die Juden bildeten in Schenklengsfeld 20
Prozent der gesamten Bevölkerung, ihr
politischer Einfluß war aber größer als ihrer
Zahl entsprochen hätte. Es bestand zu jener
Zeit in Preußen das sogenannte
Dreiklassenwahlrecht, das den besitzenden
Klassen besondere Rechte bei der Wahl
einräumte. Jede der drei Klassen hatte die
gleiche Zahl von Wahlmännern zu wählen,
und da die Juden in ihrer Mehrheit
wohlhabender waren als die Bauern,
gehörten sie den beiden ersten Klassen zu.
In Schenklengsfeld wählte in der ersten
Klasse ein einziger Wähler, ein reicher Jude.
Seine einzige Stimme hatte dasselbe Gewicht
wie die Stimmen sämtlicher Wähler der
dritten Klasse, die das Gros der Bevölkerung
ausmachten. Von den Juden wählte ein
großer Prozentsatz in der zweiten Klasse.
So kam es, daß im Dorfparlament von
Schenklengsfeld unter zwölf Abgeordneten
sieben Juden waren. Wenn auch die Juden
ihre Mehrheit im Dorfrat nicht mißbraucht
haben, so war es doch ein ungesunder
Zustand, daß 20 Prozent der Bevölkerung
die Mehrheit in diesem Rat bildeten, ein
Zustand, der zu einer Stärkung des
Antisemitismus beigetragen hat. Ähnlich
lagen die Verhältnisse in zahlreichen anderen
Dörfern Hessens mit jüdischer Bevölkerung.
Als Kuriosum sei hier erwähnt, daß in einem
Dorf im Rabbinatsbezirk Fulda, in Rhina, als
einzigem Dorf in Deutschland, die Zahl der
jüdischen Einwohner größer war als die der
nichtjüdischen. Trotzdem gab es dort einen
nichtjüdischen, von den Juden gewählten
Bürgermeister. Selbst wenn einJude zum
Bürgermeister gewählt worden wäre, wäre
er nie und nimmer von der preußischen
Regierung bestätigt worden. In Rhina gab es
nur einen jüdischen Vizebürgermeister.