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Projekt Samuel Spiro
"Bereits eine Stunde vor Schabbatanfang spazierten die Männer in ihren Schabbatanzügen durch die Dorfstraßen, und geraume Zeit vor Beginn des Gottesdienstes versammelte man sich im Hof der Synagoge, wo die Tagesereignisse besprochen und die Erlebnisse aus der verflossenen Woche
erzählt wurden. Während des Gottesdienstes herrschte eine wahre Andacht. Der Gottesdienst war feierlich und würdig und streng traditionell. [...] Der strenge Gemeindevorsteher, Parnas genannt,
duldete keine Unterhaltungen, und nicht
selten wurden Ruhestörer von ihm mit Geldstrafe belegt, die er bis zu einer
gewissen Höhe verhängen durfte.
Das geschah mit den Worten: „Sie sind gestraft
um ein Pfund Wachs." Wachs war das Materiajjiach dessen Preis die Strafe gerechnet wurde.
Die Vorstandsämter in den Dorfgemeinden wurden nicht nach Besitz, sondern nach Würdigkeit verliehen. Die Vorsteher wurden nicht gewählt, sondern durch das „Vorsteheramt der Israelitin", deren es in Hessen vier gab, ernannt. Das "Vorsteheramt der Israeliten" war eine staatlich anerkannte Institution, an deren Spitze ein Provinzialrabbiner stand. Er hatte große Vollmachten, die besonders wenn der
Rabbiner ein energischer Mann war, zur Diktatur über die Gemeinde führen konnten,
im Rabbinatsbezirk Fulda auch dazu führten.
Besonders lebhaft sind mir in Erinnerung geblieben die Nacht des Schawuotfestes und die Nacht vor Hoschana Rabba (= 7. Tag des Laubhüttenfestes). In diesen Nächten war die ganze Gemeinde zum „Lernen" versammelt, jeder in seiner „Chewre"(= Gruppe, Verein). Das „Lernen" fand in
Privathäusern statt; die Tische waren festlich gedeckt und besetzt mit allen möglichen Früchten und Gebäck. Um Mitternacht gab es Kaffee und Kuchen. Mein Vater mußte sich in jeder der „Chewrot" eine Zeitlang aufhalten, und ich durfte ihn begleiten. Das waren für mich herrliche Nächte, weniger wegen des Lernens, als wegen der Süßigkeiten, die ich mir zuführen durfte. Jede Familie, bei der
das Lernen stattfand, suchte ihr Bestes an Darbietung von Speis und Trank zu geben,
und am darauffolgenden Tage wurde im Synagogenhof Kritik geübt. Auch das „Kapores" Schlagen war bei mir sehr beliebt, denn ich sah während des „Schlagens" die Hühner im Geiste schon gekocht und
gebraten. Die Gemeinde bildete im Grunde eine große Familie. Familienfeste waren
Feste der ganzen Gemeinde. Bei Todesfällen herrschte Trauer in allen Häusern. Am Tage der Beerdigung kehrten alle nach Hause zurück, um an der Lewaja (= Beerdigung) teilzunehmen. Während der Schiwe brachte jede Besucherin Kuchen oder Geflügel in das Trauerhaus. Während der Schiwe um den Vater meiner Mutter standen wir Kinder fast den ganzen
Tag vor dem Hause, und wenn wir eine Besucherin sich nahen sahen, stürzten wir aufgeregt ins Zim­mer mit den Worten:
„Mama, es kommt wieder eine Frau mit
einem Korb in der Hand." Die Gemeindemitglieder waren zum größten
Teil „Amrazzim", Ungebildete, die zwar die hebräischen Gebete mehr oder weniger
richtig hersagen konnten, ihren Inhalt aber nicht verstanden, was übrigens ihrer Andacht keinen Abbruch tat. Wir von der jüngeren Generation, die wir in der Schule schon hebräische Grammatik lernten, machten uns ein besonderes Vergnügen daraus, die Fehler festzustellen, die die Großen machten, wenn sie am Jahrzeitstage vorbeten durften. Nur
ein ganz kleiner Teil der Gemeinde­mitglieder hatte den Ehrgeiz, auch etwas von dem zu verstehen, was sie beteten. In Schenklengsfeld versammelten sich am
Freitag abend und am Schab­bat mittag etwa zehn Männer in unserem Hause, wo mein
Vater mit ihnen Kizzur (= Kizzur Schulchan Aruch, Handbuch der Religionsgesetze) und Mischnajot (= Abschnitte im Talmud) lernte. Von uns Kindern wurden sie die „Lerner" genannt. Sie betrieben dieses Studium mit großem
Eifer, und es war rührend mitanzusehen, wie diese abgearbeiteten, müden Männer am Munde meines Vaters hingen, um Toraworte von ihm zu vernehmen.
Ich mußte mich schon als kleiner Junge an diesen Lernsitzungen beteiligen. Mein Vater hatte - leider - den Ehrgeiz, einen großen Talmudgelehrten aus mir zu machen.
So wurde ich gezwungen, schon im Alter von
vier Jahren hebräisch lesen zu lernen, im
Alter von fünf Jahren lernte ich Chumosch (=die Fünf Bücher Mose) übersetzen und im Alter von sechs Jahren einen Abschnitt Mischnajot. Durch diesen Zwang hat mein Vater das Gegenteil von dem erreicht, was er beabsichtigte. Mir wurde das Hebräischlernen allmählich zum Greuel, und als mein Vater mich nach Absolvierung des Gymnasiums gegen meinen Willen auf die Breuersche Jeschiwe in Frankfurt schickte, war das Resultat, daß ich schon nach zweimonatigem Aufenthalt in dieser
stickigen Atmosphäre das Weite suchte und
es von da ab 30 Jahre lang - in Erinnerung
an die Quä­lereien in der Jugend - nicht über mich gewinnen konnte, auch nur in ein hebräisches Buch hineinzusehen.[...]
Die Juden bildeten in Schenklengsfeld 20 Prozent der gesamten Bevölkerung, ihr politischer Einfluß war aber größer als ihrer Zahl entsprochen hätte. Es bestand zu jener Zeit in Preußen das sogenannte Dreiklassenwahlrecht, das den besitzenden Klassen besondere Rechte bei der Wahl einräumte. Jede der drei Klassen hatte die gleiche Zahl von Wahlmännern zu wählen,
und da die Juden in ihrer Mehrheit wohlhabender waren als die Bauern,
gehörten sie den beiden ersten Klassen zu.
In Schenklengsfeld wählte in der ersten
Klasse ein einziger Wähler, ein reicher Jude. Seine einzige Stimme hatte dasselbe Gewicht wie die Stimmen sämtlicher Wähler der
dritten Klasse, die das Gros der Bevölkerung ausmachten. Von den Juden wählte ein
großer Prozentsatz in der zweiten Klasse.
So kam es, daß im Dorfparlament von Schenklengsfeld unter zwölf Abgeordneten sieben Juden waren. Wenn auch die Juden
ihre Mehrheit im Dorfrat nicht mißbraucht haben, so war es doch ein ungesunder Zustand, daß 20 Prozent der Bevölkerung
die Mehrheit in diesem Rat bildeten, ein Zustand, der zu einer Stärkung des Antisemitismus beigetragen hat. Ähnlich
lagen die Verhältnisse in zahlreichen anderen Dörfern Hessens mit jüdischer Bevölkerung. Als Kuriosum sei hier erwähnt, daß in einem Dorf im Rabbinatsbezirk Fulda, in Rhina, als einzigem Dorf in Deutschland, die Zahl der jüdischen Einwohner größer war als die der nichtjüdischen. Trotzdem gab es dort einen nichtjüdischen, von den Juden gewählten Bürgermeister. Selbst wenn einJude zum Bürgermeister gewählt worden wäre, wäre
er nie und nimmer von der preußischen Regierung bestätigt worden. In Rhina gab es nur einen jüdischen Vizebürgermeister.


  
Samuel Spiro in seinen "Jugenderinnerungen aus hessischen Judengemeinden":
  
(rechts)
Die 1883 erbaute Synagoge kurz vor dem Abriss Ende Februar 1939 - für zwei Generationen das geistige Zentrum der Schenklengsfelder Juden


(unten)
Ansichtskarte von Schenklengsfeld, um 1890, mit der Synagoge in der Mitte.