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Projekt Samuel Spiro
"Die wohlhabenden Juden hatten den begreiflichen Wunsch, ihren Kindern eine höhere Schulbildung zuteil werden zu lassen, und so wurden denn einige Kinder in das Gymnasium der benachbarten Kreisstadt Hersfeld geschickt, darunter ich, das "Wunderkind". Damals gab es noch keine Bahnverbindung zwischen unserem Dorf und Hersfeld. Die Entfernung betrug
14 Kilometer, und man mußte eineinhalb bis zwei Stunden mit dem Pferdewagen dorthin fahren. Gar manchmal habe ich den Weg
auch zu Fuß zurückgelegt. Ich selbst wurde
in Schenklengsfeld für die Quarta des Gymnasiums vorbereitet.
Diese Vorbereitung war für mich mit vielen Leiden verbunden. Mein Vater hatte dafür Sorge getragen, daß in Schenklengsfeld immer ein jüdischer Arzt war, der die ganze Umgebung ärztlich versorgte. Es waren
meist ganz junge Arzte, die gerade ihr Universitätsstudium beendet hatten und in Schenklengsfeld praktische Erfahrungen sammelten. Einer dieser Ärzte erklärte sich bereit, mir lateinischen Unterricht zu
erteilen. Wenn er ärztlich stark in Anspruch
genommen war, fand dieser Unterricht in unregelmäßigen Abständen statt, war er wenig beschäftigt, so gab er mir täglich eine Stunde. Aber der Mangel an ärztlicher Arbeit verbitterte sein Gemüt, und ich war der Blitzableiter für seine Verbitterung. Machte
ich einen Fehler, so mußte ich mich über
einen Stuhl legen und dann traktierte dieser Prügelpädagoge meine Sitzfläche mit einem Lederriemen, an dessen Ende ein Knoten angebracht war. An solchen Tagen habe ich immer tief bedauert, daß es nicht mehr
Kranke in der Gegend gab, die ärztlicher Hilfe bedurften. Zu Hause wagte ich aus Angst vor meinem Vater nichts von diesen Schlägen zu erzählen, denn dann hätte ich doch zugeben müssen, daß ich etwas nicht gewußt habe,
und dann hätte ich möglicherweise noch
eine „Erziehungszulage" erhalten. Aber als
ich an einem Schabbat nach einer solchen Prügelszene weinend und mir meinen schmerzenden Körperteil reibend nach
Hause kam, und man feststellte, daß meine Sitzfläche über und über mit Striemen
bedeckt war, war selbst meinem Vater
dieser „Oneg Schabbat" (="Sabbatfreude") zuviel, und er verbot die Fortsetzung des Unterrichts. Ich erhielt dann lateinischen Unterricht bei dem protestantischen Ortspfarrer, der als
ein Antisemit galt. Mir gegenüber hat er sich stets korrekt benommen. Aber als einmal bei einer Wahl zum Preußischen Landtag, dessen Abgeordnete in öffentlicher Stimmabgabe durch sogenannte Wahlmänner gewählt wurden, der nicht antisemitische Kandidat gegen den antisemitischen Kandidaten mit einer Stimme Mehrheit siegte, ließ der
Pfarrer seine wahre Gesinnung durchblicken. Mein Vater war einer der Wahlmänner, und seine Stimme hatte gewissermaßen den Ausschlag bei der Wahl gegeben. Er mußte zum Zwecke seiner Stimmabgabe als „Wahlmann" nach der Kreisstadt Hersfeld fahren und daher den Schulunterricht für diesen Tag ausfallen lassen. Der Pfarrer, der offenbar unzufrieden mit dem Wahlausgang war, ließ als staatlicher Schulinspektor, der
er war, meinen Vater in sehr erregtem Ton durch mich auffordern, den Schulunterricht nicht ohne seine, des Schulin­spektors, vorherige Genehmigung auszusetzen. Ich erhielt daraufhin von meinem Vater den
wenig angenehmen Auftrag, zum Pfarrer zurückzugehen und ihm zu sagen, mein
Vater lehne es ab, derartige Mitteilungen
durch mich entgegenzunehmen, und bitte
den Herrn Schulinspektor, sie ihm schriftlich und amtlich zur Kenntnis zu bringen. Und da ich vor meinem Vater größere Angst hatte
als vor dem Pfarrer, mußte ich diesen
Auftrag wohl oder übel ausführen.
Diese kleine Episode zeugt von dem Unabhängigkeitssinn meines Vaters auch Vorgesetzten gegenüber.
Der Unterricht durch den Pfarrer im Lateinischen und durch meinen Vater in den übrigen Fächern war erfolgreich. Ich
bestand die Aufnahmeprüfung in die Quarta, und selbst mein Vater war - was selten vorkam - an diesem Tag mit mir zufrieden.
Für mich bedeutete dieser Tag einen neuen, wichtigen Abschnitt in meinem jungen
Leben. Er bedeutete für mich Verlassen des Elternhauses im Alter von elfeinhalb Jahren und Eintritt in eine christliche Schule.



  
Samuel Spiro in seinen "Jugenderinnerungen aus hessischen Judengemeinden":
  
(rechts)
Schenklengsfeld bekam erst durch den Bau der Hersfelder Kreisbahn 1912 Bahnanschluss an die Kreisstadt Hersfeld


(unten)
Jüdische Familien von Schenklengsfeld bei der Eröffnung der Kreisbahn 1912 - zwei Jahrzehnte nach Samuel Spiros Hersfelder Schulzeit.