"Die wohlhabenden Juden hatten den
begreiflichen Wunsch, ihren Kindern eine
höhere Schulbildung zuteil werden zu lassen,
und so wurden denn einige Kinder in das
Gymnasium der benachbarten Kreisstadt
Hersfeld geschickt, darunter ich, das
"Wunderkind". Damals gab es noch keine
Bahnverbindung zwischen unserem Dorf und
Hersfeld. Die Entfernung betrug
14 Kilometer, und man mußte eineinhalb bis
zwei Stunden mit dem Pferdewagen dorthin
fahren. Gar manchmal habe ich den Weg
auch zu Fuß zurückgelegt. Ich selbst wurde
in Schenklengsfeld für die Quarta des
Gymnasiums vorbereitet.
Diese Vorbereitung war für mich mit vielen
Leiden verbunden. Mein Vater hatte dafür
Sorge getragen, daß in Schenklengsfeld immer
ein jüdischer Arzt war, der die ganze
Umgebung ärztlich versorgte. Es waren
meist ganz junge Arzte, die gerade ihr
Universitätsstudium beendet hatten und in
Schenklengsfeld praktische Erfahrungen
sammelten. Einer dieser Ärzte erklärte sich
bereit, mir lateinischen Unterricht zu
erteilen. Wenn er ärztlich stark in Anspruch
genommen war, fand dieser Unterricht in
unregelmäßigen Abständen statt, war er wenig
beschäftigt, so gab er mir täglich eine Stunde.
Aber der Mangel an ärztlicher Arbeit
verbitterte sein Gemüt, und ich war der
Blitzableiter für seine Verbitterung. Machte
ich einen Fehler, so mußte ich mich über
einen Stuhl legen und dann traktierte dieser
Prügelpädagoge meine Sitzfläche mit einem
Lederriemen, an dessen Ende ein Knoten
angebracht war. An solchen Tagen habe ich
immer tief bedauert, daß es nicht mehr
Kranke in der Gegend gab, die ärztlicher Hilfe
bedurften. Zu Hause wagte ich aus Angst vor
meinem Vater nichts von diesen Schlägen zu
erzählen, denn dann hätte ich doch zugeben
müssen, daß ich etwas nicht gewußt habe,
und dann hätte ich möglicherweise noch
eine „Erziehungszulage" erhalten. Aber als
ich an einem Schabbat nach einer solchen
Prügelszene weinend und mir meinen
schmerzenden Körperteil reibend nach
Hause kam, und man feststellte, daß meine
Sitzfläche über und über mit Striemen
bedeckt war, war selbst meinem Vater
dieser „Oneg Schabbat" (="Sabbatfreude")
zuviel, und er verbot die Fortsetzung des
Unterrichts. Ich erhielt dann lateinischen
Unterricht bei dem protestantischen
Ortspfarrer, der als
ein Antisemit galt. Mir gegenüber hat er sich
stets korrekt benommen. Aber als einmal bei
einer Wahl zum Preußischen Landtag, dessen
Abgeordnete in öffentlicher Stimmabgabe
durch sogenannte Wahlmänner gewählt
wurden, der nicht antisemitische Kandidat
gegen den antisemitischen Kandidaten mit
einer Stimme Mehrheit siegte, ließ der
Pfarrer seine wahre Gesinnung durchblicken.
Mein Vater war einer der Wahlmänner, und
seine Stimme hatte gewissermaßen den
Ausschlag bei der Wahl gegeben. Er mußte
zum Zwecke seiner Stimmabgabe als
„Wahlmann" nach der Kreisstadt Hersfeld
fahren und daher den Schulunterricht für
diesen Tag ausfallen lassen. Der Pfarrer, der
offenbar unzufrieden mit dem Wahlausgang
war, ließ als staatlicher Schulinspektor, der
er war, meinen Vater in sehr erregtem Ton
durch mich auffordern, den Schulunterricht
nicht ohne seine, des Schulinspektors,
vorherige Genehmigung auszusetzen. Ich
erhielt daraufhin von meinem Vater den
wenig angenehmen Auftrag, zum Pfarrer
zurückzugehen und ihm zu sagen, mein
Vater lehne es ab, derartige Mitteilungen
durch mich entgegenzunehmen, und bitte
den Herrn Schulinspektor, sie ihm schriftlich
und amtlich zur Kenntnis zu bringen. Und da
ich vor meinem Vater größere Angst hatte
als vor dem Pfarrer, mußte ich diesen
Auftrag wohl oder übel ausführen.
Diese kleine Episode zeugt von dem
Unabhängigkeitssinn meines Vaters auch
Vorgesetzten gegenüber.
Der Unterricht durch den Pfarrer im
Lateinischen und durch meinen Vater in den
übrigen Fächern war erfolgreich. Ich
bestand die Aufnahmeprüfung in die Quarta,
und selbst mein Vater war - was selten
vorkam - an diesem Tag mit mir zufrieden.
Für mich bedeutete dieser Tag einen neuen,
wichtigen Abschnitt in meinem jungen
Leben. Er bedeutete für mich Verlassen des
Elternhauses im Alter von elfeinhalb Jahren
und Eintritt in eine christliche Schule.
(rechts)
Schenklengsfeld
bekam erst durch den
Bau der Hersfelder
Kreisbahn 1912
Bahnanschluss an die
Kreisstadt Hersfeld
(unten)
Jüdische Familien von
Schenklengsfeld bei
der Eröffnung der
Kreisbahn 1912 - zwei
Jahrzehnte nach
Samuel Spiros
Hersfelder Schulzeit.