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Projekt Samuel Spiro
"Im Jahre 1896 wurde in Hersfeld eine
neue, sehr schöne Synagoge gebaut. Mein Vater, der neben seinen anderen Fähigkeiten auch musikalische Begabung aufweisen konnte, hatte ein Halleluja komponiert, das
bei der Synagogeneinweihung gesungen wurde und seitdem zum eisernen Bestand
der Synagogengesänge der Gemeinde
Hersfeld gehörte, und am Schabbat und an Feiertagen von der ganzen Gemeinde mit großer Begeisterung gesungen wurde. Als Sohn des Verfassers dieses fröhlichen Gesanges genoß ich die besondere
Sympathie der Gemeindemitglieder.
In Hersfeld war die soziale Schichtung der Juden schon etwas anders als in den Dörfern. Es gab auch dort eine Anzahl Viehhändler, sowie einige „Güterschlächter", aber es
lebten dort auch schon viele Kaufleute,
deren Bildungsgrad allerdings mit wenigen Ausnahmen kaum über dem der Viehhändler lag. Die Kinder dieser Juden besuchten
bereits fast alle das Gymnasium mit mehr
oder weniger Erfolg. In meiner Klasse
waren damals Sechsjuden, von ihnen waren allerdings nur zwei am Schuljahrsbeginn in diese Klasse aufgestiegen, während die vier anderen „alte Herren" waren, d.h. die Klasse ein zweites Mal absolvierten. Außer mir hat keiner von ihnen das Gymnasium beendet, nicht einmal bis zur Einjährigenprüfung sind sie gelangt, aber sie wurden trotzdem alle tüchtige Kaufleute. [...]
Trotz der streng orthodoxen Richtung meines Onkels mußten wir auch am Schabbat das Gymnasium besuchen. Da es in Hersfeld keinen "Eruw" (= symbolischer Ersatz für Stadttor als "Sabbatgrenze") gab, durfte man dort am Schabbat nicht tragen." Das Taschentuch wurde an die Rocktasche angenäht. Die Bücher, die ich für den Unterricht brauchte, mußte ich am Freitag zum Pedell des Gymnasiums bringen und sie am Sonntag
dort wieder abholen. Ich habe es nicht
gerne getan, denn ich wurde von meinen Mitschülern - auch von den jüdischen - deswegen verspottet. Selbstverständlich haben die jüdischen Schüler am Schabbat
nicht geschrieben. Nur ein einziger Lehrer
hat daran Anstoß genommen, alle anderen Lehrer respektierten unsere religiösen Gefühle. Ich habe in meiner lügend die religiösen Gebote gewissenhaft erfüllt. Besonders vor Klassenarbeiten und vor
den Terminen der Zeugnisverteilung
steigerte sich meine religiöse Inbrunst,
und mit Versprechungen an Gott bezüglich Erfüllung seiner Gebote war ich in solchen Zeiten sehr freigebig.
Unter meinen Mitschülern war ein
christlicher Junge dänischer Herkunft.
Sein Vater hatte den Krieg von 1864
zwischen Preußen und Dänemark auf dänischer Seite mitgemacht, und da er in
den an Preußen abgetretenen Landesteilen wohnte, trat er nach Friedensschluß in den preußischen Staatsdienst über. Dieser
Junge, der zu den besten Schülern der
Klasse gehörte und daneben auch körperlich ungewöhnlich kräftig war, war frei von jeder antisemitischen Regung und kam allen jüdischen Mitschülern mit seinen starken Armen zu Hilfe, wenn sie von den antisemitischen Klassenkameraden belästigt wurden. Und solche Schläge der vereinten christlichen Mitschüler gegen die wenigen jüdischen waren an der Tagesordnung. Man wurde über einen sogenannten Schlagbaum gelegt, von einigen Jungen festgehalten, und dann hatte jeder Schüler das Recht, einen Schlag auf die Sitzfläche zu geben, und da etwa 28 christliche Schüler in der Klasse waren, summierten sich diese Schläge im Laufe des Monats zu ganz erklecklichen Ziffern. Aber wenn der starke Däne Olaf Olerog zugegen war, wurden selbst die rohesten Patrone vorsichtig.
Gesellschaftlichen Verkehr gab es in
Hersfeld zwischen Juden und Christen überhaupt nicht, es bestand eine
vollständige Trennung zwischen den Konfessionen, und ich habe auch später in Deutschland niemals eine so rein antisemitische Atmosphäre in allen Kreisen
der Bevölkerung erlebt wie in Hersfeld. (...)



  
Samuel Spiro in seinen "Jugenderinnerungen aus hessischen Judengemeinden":
  
(links)
Naphtali Landsberg, Sohn eines ehem. jüdischen Lehrers in Hersfeld, erkannte sich als einen der Jungen, die vor der 1896 eröffneten neuen Hersfelder Synagoge stehen. Auch Jabob/ Jack Hahn - so seine Schwägerin Vera Haon, geb. Klebe - ist einer der vier Jungen, die auf dem Foto zu sehen sind.
(unten)
Samuel Spiros Hersfelder Abgangszeugnis vom 7. April 1900, unterschrieben vom damaligen Schulleiter Konrad Duden