"Im Jahre 1896 wurde in Hersfeld eine
neue, sehr schöne Synagoge gebaut. Mein
Vater, der neben seinen anderen Fähigkeiten
auch musikalische Begabung aufweisen
konnte, hatte ein Halleluja komponiert, das
bei der Synagogeneinweihung gesungen
wurde und seitdem zum eisernen Bestand
der Synagogengesänge der Gemeinde
Hersfeld gehörte, und am Schabbat und an
Feiertagen von der ganzen Gemeinde mit
großer Begeisterung gesungen wurde. Als
Sohn des Verfassers dieses fröhlichen
Gesanges genoß ich die besondere
Sympathie der Gemeindemitglieder.
In Hersfeld war die soziale Schichtung der
Juden schon etwas anders als in den Dörfern.
Es gab auch dort eine Anzahl Viehhändler,
sowie einige „Güterschlächter", aber es
lebten dort auch schon viele Kaufleute,
deren Bildungsgrad allerdings mit wenigen
Ausnahmen kaum über dem der Viehhändler
lag. Die Kinder dieser Juden besuchten
bereits fast alle das Gymnasium mit mehr
oder weniger Erfolg. In meiner Klasse
waren damals Sechsjuden, von ihnen waren
allerdings nur zwei am Schuljahrsbeginn in
diese Klasse aufgestiegen, während die vier
anderen „alte Herren" waren, d.h. die Klasse
ein zweites Mal absolvierten. Außer mir hat
keiner von ihnen das Gymnasium beendet,
nicht einmal bis zur Einjährigenprüfung sind
sie gelangt, aber sie wurden trotzdem alle
tüchtige Kaufleute. [...]
Trotz der streng orthodoxen Richtung meines
Onkels mußten wir auch am Schabbat das
Gymnasium besuchen. Da es in Hersfeld
keinen "Eruw" (= symbolischer Ersatz für
Stadttor als "Sabbatgrenze") gab, durfte man
dort am Schabbat nicht tragen." Das
Taschentuch wurde an die Rocktasche
angenäht. Die Bücher, die ich für den
Unterricht brauchte, mußte ich am Freitag zum
Pedell des Gymnasiums bringen und sie am
Sonntag
dort wieder abholen. Ich habe es nicht
gerne getan, denn ich wurde von meinen
Mitschülern - auch von den jüdischen -
deswegen verspottet. Selbstverständlich
haben die jüdischen Schüler am Schabbat
nicht geschrieben. Nur ein einziger Lehrer
hat daran Anstoß genommen, alle anderen
Lehrer respektierten unsere religiösen
Gefühle. Ich habe in meiner lügend die
religiösen Gebote gewissenhaft erfüllt.
Besonders vor Klassenarbeiten und vor
den Terminen der Zeugnisverteilung
steigerte sich meine religiöse Inbrunst,
und mit Versprechungen an Gott bezüglich
Erfüllung seiner Gebote war ich in solchen
Zeiten sehr freigebig.
Unter meinen Mitschülern war ein
christlicher Junge dänischer Herkunft.
Sein Vater hatte den Krieg von 1864
zwischen Preußen und Dänemark auf
dänischer Seite mitgemacht, und da er in
den an Preußen abgetretenen Landesteilen
wohnte, trat er nach Friedensschluß in den
preußischen Staatsdienst über. Dieser
Junge, der zu den besten Schülern der
Klasse gehörte und daneben auch körperlich
ungewöhnlich kräftig war, war frei von jeder
antisemitischen Regung und kam allen
jüdischen Mitschülern mit seinen starken
Armen zu Hilfe, wenn sie von den
antisemitischen Klassenkameraden belästigt
wurden. Und solche Schläge der vereinten
christlichen Mitschüler gegen die wenigen
jüdischen waren an der Tagesordnung. Man
wurde über einen sogenannten Schlagbaum
gelegt, von einigen Jungen festgehalten, und
dann hatte jeder Schüler das Recht, einen
Schlag auf die Sitzfläche zu geben, und da
etwa 28 christliche Schüler in der Klasse
waren, summierten sich diese Schläge im
Laufe des Monats zu ganz erklecklichen
Ziffern. Aber wenn der starke Däne Olaf
Olerog zugegen war, wurden selbst die
rohesten Patrone vorsichtig.
Gesellschaftlichen Verkehr gab es in
Hersfeld zwischen Juden und Christen
überhaupt nicht, es bestand eine
vollständige Trennung zwischen den
Konfessionen, und ich habe auch später in
Deutschland niemals eine so rein
antisemitische Atmosphäre in allen Kreisen
der Bevölkerung erlebt wie in Hersfeld. (...)
Samuel Spiro in
seinen
"Jugenderinnerungen
aus hessischen
Judengemeinden":
(links)
Naphtali Landsberg, Sohn
eines ehem. jüdischen
Lehrers in Hersfeld, erkannte
sich als einen der Jungen, die
vor der 1896 eröffneten neuen
Hersfelder Synagoge stehen.
Auch Jabob/ Jack Hahn - so
seine Schwägerin Vera Haon,
geb. Klebe - ist einer der vier
Jungen, die auf dem Foto zu
sehen sind.
(unten)
Samuel Spiros Hersfelder
Abgangszeugnis vom 7. April
1900, unterschrieben vom
damaligen Schulleiter Konrad
Duden