"Im Jahre 1899 wurde mein Vater an die
neugegründete jüdische Volksschule in Fulda
versetzt. Das bedeutete für ihn zugleich einen
Aufstieg und einen Abstieg. Einen Aufstieg
insofern, als er in eine Stadt kam mit besseren
Bildungsmöglichkeiten für uns Kinder, die wir
nunmehr wieder im Elternhause leben konnten,
als er dort Umgang mit gebildeten Menschen
pflegen und seine geistigen Fähigkeiten besser
zur Geltung bringen konnte. Für meine Mutter,
die auf dem Dorfe unter sehr primitiven
Bedingungen leben mußte, bedeutete es eine
Erleichterung ihres Lebens. Ein Abstieg war es,
weil es mit der Selbstherrlichkeit, mit der er im
Dorfe geschaltet und gewaltet hatte, nunmehr
vorbei war. Er war dort nicht mehr der
Mittelpunkt der ganzen Gemeinde, sondern
einer unter vielen Beamten, die Vorgesetzte
über sich hatten. Er, der Jahrzehnte hindurch
nur gewohnt war, zu befehlen, mußte nun
plötzlich Befehle entgegennehmen. Hinzu kam,
daß die stickige Atmosphäre eines religiösen
Fanatismus, wie er in Fulda unter dem Regime
eines zelotischen Rabbiners herrschte, seinem
Wesen fremd war. Dieser Rabbiner, der kraft
der hessischen Judenverordnung eine große
Machtfülle hatte, nutzte sie in wahrhaft
diktatorischer Weise aus.
Samuel Spiro in
seinen
"Jugenderinnerungen
aus hessischen
Judengemeinden":
(rechts)
Die Jüdische Schule in
Fulda wurde in der sog.
Kristallnacht im November
1938 verwüstet. Bücher,
Hefte und Lehrmaterial
landeten auf der Straße, wie
dies andeutungsweise zu
erkennen ist.
(unten)
Die Jüdische Schule in
Fulda, Von-Schildeck-Straße
13, an der Samuel Spiros
Vater Jakob Spiro von 1900
bis 1912 tätig war.