"Liebe Mutter! (...) Wir hätten auch längst geschrieben, aber wir wollten erstmal zur Ruhe kommen, damit unser Bericht vom letzten Ereignis nicht so drastisch wird und Du nicht so einen Schrecken bekommst. Anläßlich des Attentats auf Legationsrat vom Rath sind hier große Judenverfolgungen gewesen. In der Nacht vom Montag auf den Dienstag (7. auf 8. November 1938; Anm. HN/RP) sind verschiedene Fanatiker der Partei in die Judenhäuser eingedrungen, haben die Juden aus den Betten geholt und alles kurz und klein geschlagen. Alle Möbel umgekippt, Porzellan, Glas, Fensterscheiben, überhaupt alles Erreichbare umgekippt und kaputt geschlagen. Vorhänge abgerissen, Stoffe und auch zum Teil Lebensmittel umhergeworfen, elektrische Lampen und Birnen. Sogar die Lichtleitungen kaputt geschlagen, bei Emanuels eingebaute Waschbecken, Badewanne, sogar die Platten sind hinüber. Wir hörten die ganze Nacht Spektakel und Klirren von Glas, dachten aber nicht anders als es sei ein großes Autounglück geschehen.
Wir schliefen die ganze Nacht nicht, konnten aber bei der Dunkelheit auch auf der Straße nichts erkennen als nur viele Menschen, ich glaube die Hälfte der Bewohner Bebras waren die Nacht auf den Beinen. (...) Der Jud Emanuel stand inmitten der Trümmer, kein Fensterkreuz mehr im Haus, keine Türe mehr, sogar die schwere eichene Haustür ist nicht mehr vorhanden, ein Bild des Entsetzens und großen Jammers. Nachmittags sind dann die Juden alle von hier weg, sie mußten wohl auch, denn sie konnten sich ja nirgends aufhalten, noch nicht einmal ein Bett war ja noch ganz. Die andere Nacht war Ruhe. Dann am Mittwoch auf den Donnerstag gings wieder los, denn am Mittwoch war Herr v. Rath gestorben. Als Rache hierfür kam die zweite Aktion. Wir hörten wieder ein furchtbares Getöse und schliefen in dieser Nacht wieder nicht, denn in der Nacht hören sich Axtschläge so sehr unheimlich an. Dieses Mal sind alle Möbel, überhaupt jegliches Inventar aus den Judenwohnungen geholt worden und auf dem Adolf-Hitler-Platz (heute: Am Anger, Anm. d. Autors) aufgestapelt und verbrannt worden. Silber, Schmuck, die großen Warenlager und die unheimlich vielen gelagerten Lebensmittel und natürlich auch Geld sind von der Polizei beschlagnahmt und sichergestellt worden. (...) Das Warenlager ist längst weg, Emanuel soll Sachen, nur Stoffe, im Wert von 50.000,-- Mark gehabt haben, auch haben sie Devisen bei allen Juden in beträchtlichen Mengen gefunden, auch eine Gemeinheit und viel Geld. Die Geschäftsbücher sind alle sicher gestellt worden, der Emanuel soll in diesem Jahr einen Umsatz von 76.000,-- Mark gehabt haben, kann man so etwas glauben? Wir wissen es von einem, der genau darüber Beschied weiß, natürlich auch dabei gewesen ist. Emanuels ihre Vorräte waren auch ausgestellt, sie waren auch sehr sehenswert und sehr bezeichnend für die ängstlichen Leute, die wahrscheinlich Angst hatten, sie müßten Hungers sterben. Denk mal, 120 Büchsen Konserven, unendliche Gläser mit dem feinsten Geflügel, Gänse, Täubchen, Hähnchen, u.s.w., 200 Eier, 1/2 Zentner Butter, 1/2 Zentner Magarine, dann Rindsfett große Steintöpfe voll, unzähliges Palmin, 20 Liter Salatöl, wohl 4 Waschkörbe voll Äpfel, sehr viel Marmelade, Gelee, u.s.w, ich kann gar nicht alles aufzählen. Herr E. hat mir alles gezeigt, ich hatte so etwas von Vorräten noch nie gesehen und bei der Fettknappheit so zu hamstern, zudem wäre doch sicher die Hälfte schlecht geworden, dieses alles war ja eine große Gemeinheit. Die anderen hatten sich auch alle gut eingedeckt, aber dies war doch das meiste. Diese Sachen hat alle die NSV an sich genommen und soll auf dem schnellsten Wege verteilt werden. Die Stadt hat jetzt unendlich viel zu tun. Heute sind den ganzen Tag Läger und Speisekammern aufgelöst worden, ich glaube kaum, daß sie schon fertig sind, denn alle Juden haben sehr große Stoff- und Wäschelager, das hat man doch so gar nicht mehr gewußt. Nun sind die Juden endgültig fort, was mit den Häusern wird, weiß kein Mensch. Du kannst wenigstens noch bei Dir die Treppe rauf gehen, in den anderen Häusern sind sogar die auch weg, sie haben wohl alle nur das nackte Leben vorläufig gerettet, es weiß kein Mensch wo sie alle hin sind, man vermutet, daß sie alle bis zur engültigen Lösung in Konzentrationslager stecken. (...)"
  
Hersfelder Straße 7 (ehemals Emanuel) 2008
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Projekt: Vor aller Augen in Bebra und Umgebung