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Ehemalige jüdische Schüler der Hersfelder Alten Klosterschule

128 Jahre unter einem Dach: Christliche und jüdische Schüler


In den Akten des ehemaligen Hersfelder Gymnasiums „Alte Klosterschule“ (jetzt im Archiv der Modellschule Obersberg) stehen die Namen von 260 jüdischen Schülern. Im März 193, als mit Manfred Buchsbaum aus Wüstensachsen der letzte jüdische Schüler die Schule verließ bzw. verlassen musste, endeten 128 Jahre gemeinsamen Lernens von Kindern aus christlichen und jüdischen Elternhäusern.

Schon vor dem kurhessischen Schulgesetz von 1823, mit dem auch die jüdischen Kinder erfasst und in das allgemeine Schulwesen eingebunden wurden, stand das Hersfelder Gymnasium dem Nachwuchs aus jüdischen Elternhäusern offen. Gumpert Dellevie, 1793 geborener Sohn des Rotenburger Hofjuden Meyer Heinemann, der 1808 den Namen Dellevie angenommen hatte, war im April 1809 Hersfelder Klosterschüler geworden, im Herbst 1813 machte er sein Abitur, um anschließend Jura zu studieren.

Seit das Kurfürstentum Hessen-Kassel und damit auch Hersfeld 1866 preußisch geworden war, galt auch hier das freie Niederlassungsrecht. Bekanntlich wurde daraufhin Hersfeld im Verlauf der folgenden Jahr-zehnte eine begehrte Adresse für jüdische Familien. Nicht zuletzt war das damit verbundene bessere Bildungsangebot ein Hauptgrund für die Ansiedlung in der Lullusstadt, war doch das Streben nach Bildung und Erziehung in jüdischen Familien traditionell in besonderer Weise ausgeprägt.

In den folgenden Jahrzehnten findet sich in gleicher Weise wie bei den christlichen auch bei den jüdischen Schülern eine räumlich weitgespannte Schülerklientel. Machten es die ab Mitte des 19. Jahrhunderts gebauten Bahnlinien nach z. B. Oberaula, Rhina oder Bebra und seit 1912 die Hersfelder Kreisbahn für die Schenklengsfelder möglich, als Fahrschüler sich gymnasiale Bildung zu verschaffen, so nahm eine Reihe auswärtiger jüdischer Schüler (ebenso wie nichtjüdische) bei Hersfelder Familien Quartier. Erfolgte die Aufnahme eines Studiosus in der Regel zur Aufstockung des Familienbudgets, so standen vielfach auch verwandtschaftliche Bande dahinter, insbesondere galt das für jüdische Familien.

Als markantes Beispiel sei Heinrich Dellevie aus Hamburg genannt, der im Sommer 1847 bei seinem Onkel, dem praktischen Arzt Dr. Carl Dellevie im Haus Linggplatz 4 aufgenommen wurde, nach dessen plötzlichem Tod im Juli 1847 dann aber zum nächsten Schuljahr bei den Dellevies in Kassel Aufnahme fand und dort seine Schullaufbahn fortsetzte. Eine genauere Schilderung seiner Gastrolle bei seiner Hersfelder Verwandt-schaft liefert uns Samuel Spiro, der Sohn des Schenklengsfelder jüdischen Lehrers, der von 1897 bis 1900 bei seinem Onkel, dem Hersfelder jüdischen Lehrer Moses Nussbaum wohnte.

In welcher Weise die jüdischen Jungen schon vor 1933 unter systematischer Diskriminierung zu leiden hatten, lässt sich schwer beurteilen. Nach Darstellung von Samuel Spiro war das politische Klima in der Hersfelder Region zwar stark antisemitisch geprägt, was aber wenig Auswirkungen auf das Verhalten der Lehrerschaft den jüdischen Schülern gegenüber zur Folge hatte. Ganz direkt sagt Spiro dies über den damaligen Schulleiter Konrad Duden: „Den jüdischen Schülern gegenüber verhielt er sich korrekt.“  Wohl aber berichtet Spiro von einer judenfeindlich eingestellten Schülerschaft.

Eine Vorstellung davon, dass dies nicht als rein subjektive Wahrnehmung abgetan werden kann, ergibt ein Blick auf die durchschnittliche weltanschaulich-politische Ausrichtung der meisten Elternhäuser von Spiros Mitschülern. War es doch mit Ludwig Werner einem Vertreter der Antisemitischen Volkspartei 1893 gelun-gen, im Wahlkreis Hersfeld-Hünfeld-Rotenburg im ersten Anlauf das Reichstagsmandat zu erobern, das er mit wachsenden Mehrheiten bis zur letzten Reichstagswahl im Kaiserreich 1912 in Berlin vertreten konnte. Dazu kam 1898 sogar noch der Sitz im Preußischen Landtag für den Wahlkreis Hersfeld-Rotenburg – und dies unter den Bedingungen des Dreiklassenwahlrechts. 

Auf die Regelungen im Schulalltag hatte das so charakterisierte Umfeld allem Anschein nach aber keine Auswirkungen. Wie die Katholiken waren auch die Juden an ihren speziellen Feiertagen vom Unterricht befreit. Wilhelm Lotze erinnert sich an seine jüdischen Mitschüler, wie sie an Jom Kippur, dem jüdischen Buß- und Versöhnungstag, auf dem Hof der Synagoge standen, in einer für ihn unverständlichen Kleidung, „nämlich in ihren Sonntagsanzügen, aber an den Füßen Hausschuhe, ebenso die Väter im Frack und Filzlatschen.“

Was aber passierte am Samstag, für Juden der Sabbat, an dem für sie ein strenges Arbeitsverbot gilt. Von dem schon genannten Wilhelm Lotze, Hersfelder Klosterschüler von 1914 bis 1918, erfahren wir aus einem Beitrag im „Klosterboten“ (Nr.96, Oktober 1975), dass – zumindest in jenen Jahren – große Rücksicht auf die Glaubensgrundsätze der jüdischen Schüler genommen wurde. Konkret bedeutete dies z. B.: keine Klassen-arbeiten an Samstagen. „Die jüdischen Schüler trugen auch am Sonnabend ihre Bücher nicht selbst zur Schule, entweder machten das die Dienstmädchen oder Schüler aus armen Familien durften die Bücher schon am Abend vorher zur Schule bringen.“

Dass die von Wilhelm Lotze erlebte Respektierung jüdischer Lebensweise nicht von vornherein in dieser Ausprägung gegeben war, erfahren wir aus einer Eingabe des jüdischen Lehrers Moses Nussbaum vom 13. Februar 1895, in der er sich mit der „dringenden Bitte“  an Schulleiter Duden wandte, „dass die betroffenen israelitischen Schüler am Samstag keine schriftlichen Arbeiten zu machen brauchen. Der Schüler B(ernhard) Rieberg ersuchte mich mit Tränen erstickter Stimme an Ew. Hochwohlgeboren diese Bitte zu richten.“

Bernhard Riebergs wenige Wochen danach ausgestelltes Zeugnis des sog. „Einjährigen“ (= Mittlere Reife) mit der Gesamtbeurteilung „gut“, unterschrieben von Schulleiter Duden, lässt es als sehr wahrscheinlich gelten, dass dem Ersuchen von Moses Nussbaum stattgegeben wurde.

War es der Ausdruck von offenem Antisemitismus, eine Vorweg-nahme dessen, was nur Monate später staatlich begünstigt wurde, oder „nur“ die von damaligen Pädagogen meist folgenlos einem einzelnen Schüler gegenüber gezeigte Respektlosigkeit, die hinter dem steckte, was Fred Speier bei seinen Besuchen in seinem alten Heimatort Niederaula über seine Schulzeit u. a. berichtete? Sein damaliger Lateinlehrer stellte sich in der Pause, als er sein mit kräftigem Käse belegtes Frühstücksbrot auspackte, demonstrativ neben ihn, schnüffelte hörbar und ließ sich dann vernehmen: „Hier stinkt es, das kommt wohl von dem Judenstinker!“ 

Nicht für alle 33 Opfer des Holocaust, die auf der Gedenktafel im Aulagebäude der ehemaligen Alten Klosterschule bzw. jetzigen Konrad-Duden-Schule gewürdigt werden, konnten die exakten Daten zu ihrem Deportationsschicksal, zum Tag und Ort ihres Todes ermittelt werden. Die zusammen mit den jeweiligen Geburtstagen und Herkunftsorten festgehaltenen Orts- und Datumsangaben meinen im Prinzip die letzten Lebenszeichen. Während Treblinka und Sobibor reine Vernichtungslager waren, stehen die übrigen Namen für große Auffang- bzw. Konzentrationslager, in denen systematisch durch Erschießen, in Gaswagen und auch wahllos getötet wurde, dazu kam Vernichtung durch Arbeit, Hunger und kaum geleistete ärztliche Versorgung im Krankheitsfall. Für Auschwitz gilt beides, für die arbeitsfähigen Häftlinge war es bis zum Erlöschen ihrer Arbeitskraft die Adresse ihres zermürbenden Zwangsaufenthalts, für andere der Ort, in dessen Gaskammern sich ihr Schicksal in kürzester Frist besiegelte. Für viele ins Ghetto Theresienstadt gewaltsam Verschleppte und dort trotz Hunger, Krankheit und Verzweiflung noch Überlebende waren die Gaskammern von Auschwitz das finale Ziel ihrer Deportation.

Zehn der zwölf biographischen Skizzen, die in digitaler Form vorgelegt werden, sind ehemaligen jüdischen Klosterschülern gewidmet, die der Vernichtung im Holocaust entkommen konnten. Sie verdanken ihr Über-leben der Aufnahme im damaligen Palästina (Josef Hahn, Hans Löwenberg, Samuel Spiro) sowie in England (Rudi Hahn, Leo Oppenheim) und USA/Kanada (Arthur Hahn, Jakob Jack Hahn, Siegfried Oppenheim/nach Namensänderung Daniel Penham, Siegfried Fred Speier, Julius Wetterhahn).

Die mühsam nach England Entkommenen mussten dann erleben, dass sie nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich im Sommer 1940 aufgrund von Invasionsangst und Spionagefurcht unter Generalverdacht fielen und als feindliche Ausländer (enemy aliens) behandelt wurden. Sie wurden für einige Monate in Internierungs-lagern ihrer Freiheit beraubt, ehe sie auf Deportationsschiffen in höchster Lebensgefahr und unter qualvollen Reisebedingungen nach Kanada (Jakob Jack Hahn) bzw. Australien (Leo Oppenheim) transportiert wurden, wo wiederum Jahre der Internierung auf sie warteten.

Keiner der jüdischen Klosterschüler verblieb bis zum zentral von Berlin aus angeordneten Verweis der jüdischen Schüler mit Erlass vom 14. November 1938. Mit dem Abgang des oben genannten Manfred Buchsbaum im März 1937 war die Schule „judenfrei“ geworden, ein Ziel, das viele nationalsozialistische Stadt- und Gemeindeoberhäupter ehrgeizig verfolgten. Für die Stadt Hersfeld war dies der 30. Mai 1942, für den Landkreis Hersfeld der 7. September 1942, als Salomon und Karoline Levi aus Niederaula, die Eltern des ehemaligen Klosterschülers und Holocaustopfers Salli Levi, die unfreiwillige Reise ins Ghetto Theresienstadt antreten mussten.

Einige der aus Nazideutschland geflüchteten ehemaligen Klosterschüler haben nach dem Krieg ihren Fuß wieder auf den Boden ihres ursprünglichen Heimatlandes gesetzt und Kontakt mit den dort Lebenden gesucht. Mehrfach war es auch deren Initiative, die den Geflüchteten materiell oder ideell den Weg in die alte Heimat ermöglichte. Es mussten aber viele Jahre nach dem Kriegsende 1945 vergehen, ehe dies geschehen konnte. Eine wichtige Voraussetzung dafür war die Wahrnehmung eines gewandelten Landes, dessen Menschen und vor allem dessen jüngere Generation sich in ihrer großen Mehrheit des unsäglichen Leids bewusst geworden war, welches die ehemals hier lebenden jüdischen Mitbürger (und Mitschüler) erlitten hatten. „Zwischen mir und Deutschland existierte ein ‚Eiserner Vorhang’. Nach meinem Besuch hier an den Orten meiner Jugend und den Begegnungen mit den Menschen hat dieser ‚Eiserne Vorhang’ große Löcher bekommen“ – so formulierte es ein Besucher aus Israel nach einer Woche Aufenthalt in seiner hessischen Heimat, sieben Jahrzehnte nach seiner Flucht.

In Kapitel 2 werden für die jüdischen Schüler der jeweilige Geburtstag und Geburtsort sowie die Elternhäuser genannt, ebenso ihre Verweildauer am Hersfelder Gymnasium und der Schulabschluss (Abitur oder Mittlere Reife bzw. das „Einjährige“). Diese Daten konnten jedoch nicht bei allen Schülern vollständig ermittelt werden. Bei denjenigen Ehemaligen, die Opfer des Holocaust wurden, findet sich in der Gesamtübersicht ein entsprechender Vermerk, ebenso bei den jüdischen Gefallenen im Ersten Weltkrieg.

In Kapitel 3 sind dann den acht Klosterschülern, die als Soldaten im Ersten Weltkrieg gefallen sind, jeweils Einzelblätter gewidmet. Auf diesen sind ebenso wie bei den folgenden Kurzbiographien der 33 Holocaust-opfer (Kapitel 4) auch Eltern, Großeltern und Geschwister genannt, um den Familienalltag anzudeuten und einen Einblick zu ermöglichen, wie die nationalsozialistische „Endlösung“ die Familien auslöschte und dabei keine Generation verschont blieb. Unter den 33 Opfern der systematischen Vernichtung finden wir ehema-lige Klosterschüler, die erst wenige Jahre zuvor in Hersfeld die Schulbank gedrückt hatten, und auch solche, deren Zeugnis noch die Unterschrift von Konrad Duden trug.

In der Person von Dr. Berthold Hoffa, Abitur 1891, begegnet uns ein Schicksal, in dem sich die Hoffnungen des deutschen Judentums und deren brutale Zerstörung in ein und derselben Person vereinten. Lieber wollte der mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnete Oberstabsarzt aus dem Ersten Weltkrieg am 14. Januar 1943 durch die Kugel aus seinem Revolver sterben, als die Erniedrigungen und Qualen erleiden, die ihm durch die angeordnete Deportation bevorstanden.

Acht ehemalige jüdische Klosterschüler waren im Ersten Weltkrieg als Frontsoldaten im Feld geblieben. 33 Ehemalige aber starben im Zweiten Weltkrieg – durch ihr Land, nicht für ihr Land.

Es sind weitere Forschungen nötig, um die Schicksale derjenigen zu würdigen, die wie die Genannten nach ihrer Flucht aus Nazideutschland in Israel, England, Australien, Kanada oder USA eine neue Heimat fanden. Ebenso sind die bereits hier vorgelegten biographischen Skizzen nicht als abgeschlossene Darstellungen zu betrachten.

  
Jüdische Schüler im Hersfelder Gymnasium ("Alte Klosterschule") von 1809 bis 1937
Liste der 260 jüdischen Schüler