Die jüdische Gemeinde ließ 1853/54 ein neues Gebäude für den Elementar- und Religionsunterricht bauen, das zugleich den Zugang zu der dahinter gelegenen Synagoge auf dem gleichen Grundstück bildete. Ab 1913 wurde die Schule nur noch für den Religionsunterricht genutzt. Mit zwei hauptamtlichen Lehrkräften für bis zu 70 SchülerInnen war sie im 19. Jahrhundert zeitweilig die größte jüdische Schule in ganz Niederhessen.
Hinter dem alten Schulgebäude war 1738/ 39 die Synagoge errichtet worden. Als Vierstützenbau (typisch für die Bauweise der portugiesischen Juden) galt das an sich schlichte Gotteshaus als eine architektonische Besonderheit.
Bei den Novemberpogromen 1938 wurde die Synagoge geschändet, die Fenster eingeschlagen, Inneneinrichtung und Kultgegenstände zertrümmert und aus dem Haus geschleppt. Die unmittelbare Nähe zu den Nachbargebäuden verhinderte, dass die Synagoge niedergebrannt wurde.
Genau 200 Jahre war die Synagoge das Zentrum der jüdischen Gemeinde von Rotenburg, als sie 1939 zusammen mit dem Schulgebäude an einen privaten Käufer abgetreten wurde, der sie als Scheune nutzte. Das baufällig gewordene Gotteshaus wurde 1947 abgerissen. Einige sakrale Objekte sind erhalten geblieben.


Das Foto (oben) zeigt die ehem. Rotenburger Synagoge nach Kriegsende. In einem Bericht von Pfarrer Hamann über die Geschehnisse im November 1938 (vollständig nachzulesen bei Station 12 unseres Rundgangs) heißt es:
Am furchtbarsten jedoch die Zertrümmerung der Synagoge in der Brotgasse, bei der unter Leitung bzw. stillschweigender Duldung der Lehrer Schulkinder durch Steinwürfe und tätliche Handlungen das Zerstörungswerk verrichteten. (!)“

Die ortsansässigen Juden unterschieden sich in ihren Ansichten und Meinungen kaum von ihren Mitbürgern. So bescheinigt das Rotenburger Tageblatt, dass in den Reden jüdischer Mitbürger anlässlich der Einweihung der renovierten Synagoge 1924 neben „religiöser, alttestamentlicher Grundstimmung“ auch ein „tiefes Heimatgefühl“ und „Liebe zum Vaterland“ zum Ausdruck gebracht wurden. Anwesend waren Vertreter des öffentlichen Lebens vom Landrat, dem Schulrat, dem Bürgermeister bis hin zur evangelischen Pfarrerschaft. Alle Festredner betonten das gute Miteinander der verschiedenen Konfessionen in Rotenburg. Die volle Gleichstellung und Integration der Juden schien erreicht. Die jüdische Bevölkerung konnte sich als geachteter Bestandteil der Rotenburger Bürgerschaft betrachten.


Zeichnungen von Kerzenhalter und Opferstock aus der ehemaligen Rotenburger Synagoge.


Das einzige, verfügbare Foto der Synagoge von 1939.



Das hier abgebildete Modell der Rotenburger Synagoge (im Maßstab 1: 10) vereinigt Elemente aus verschiedenen „postmodernen“ Rekonstruktionsvorschlägen, die von Schülerinnen und Schülern der Jakob-Grimm-Schule gemacht wurden. Das Modell entstand im Schuljahr 1996/97 im Grundkurs Architektur, den unsere verstorbene Kunsterzieherin Miriam Schaub leitete. Das Modell, gebaut von den Zwillingsschwestern Bierschenk aus Bebra-Breitenbach, vereinigt Elemente aus verschiedenen „post-modernen“ Rekonstruktionsvorschlägen der Kursteilnehmer. Die Umsetzung der Vorschläge in ein maßstabgerechtes Modell im Frühjahr 1998 brachte die 1996/97 gebildete ARBEITSGRUPPE SPURENSUCHE auf den Gedanken einer Dauerausstellung zur Tradition jüdischen Lebens in der Region. Mit der Einrichtung der Geschichtswerkstatt auf dem Dachboden der Jakob-Grimm-Schule (siehe Nr. 22 unseres Rundgangs) konnte dieses Vorhaben im Jahr 2002 realisiert werden.

Zu 100 Talern Strafe wird die Rotenburger Judenschaft am 20. August 1739 von der landgräflichen Administration in Kassel wegen des nicht genehmigten Baus der Synagoge in der Brotgasse verurteilt: „weil sie mit Vorbeygehung (=Umgehung) des Summi Episcopi (=des Obersten Bischofs, d. h. des Landesherrn) eine besondere Schuhle oder Synagoge zu erbauen sich unterstanden“.
Vorher ist in der Urkunde festgehalten, dass die Aufnahme der Juden grundsätzlich die „Gewissensfreyheit und Haltung ihres Gottesdienstes in sich begreift, alleine hierzu braucht es keiner Concession, sondern die Juden halten, wie im ganzen Land bekannt, Schule (=Gottesdienst) in ihren Häusern“. Sofern jedoch spezielle Gebäude für ihren Gottesdienst in Anspruch genommen werden sollen, sei dies nur mit der entsprechenden Genehmigung des Kasseler Landgrafen möglich. Die Rotenburger Kanzlei erhält einen Verweis. Ihr wird vorgehalten, dass sie dies habe wissen müssen („solches ohne Zweifel besser verstanden oder wenigstens verstehen sollen“).

Die Thora-Rolle aus der Rotenburger Synagoge wurde während der antijüdischen Ausschreitungen im November 1938 schwer beschädigt. Sie befindet sich mit anderen sakralen Gegenständen im Magazin des Kreisheimatmuseums. Weil sie entweiht wurde, verzichtete später der Landesverband der Jüdischen Gemeinden Hessens auf deren Übergabe.



Einige Häuser weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite (in Richtung Steinweg) stoßen wir auf das Haus Brotgasse 6, in dem bis 1939 die Schlosserfamilie Gans wohnte. Coppel Gans war 1882 einer der neun Gründer der Freiwilligen Feuerwehr. Zehn der insges. 58 Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr im Gründungsjahr 1882 waren Juden. Willy Gans, der Sohn von Coppel Gans, war bis zur NS-Machtergreifung Gerätewart in der Freiwilligen Feuerwehr und avancierte zum Adjutanten von Feuerwehrhauptmann Karl-Adolf Schnell.
Das Haus mit den dahinter liegenden Gebäudeteilen hatte über die Jahrhunderte hin jüdische Besitzer. Im Hinterhaus befand sich bis zum Bau der Gemeindesynagoge 1738 eine von David Cappel eingerichtete Privatsynagoge, die auch den übrigen Rotenburger Juden als Gotteshaus diente. Die persönliche Verfügungsgewalt des Hauseigentümers über die Nutzung des Gebäudes als Synagoge führte zu Unzufriedenheit und Streit. Um diesem Zustand abzuhelfen, ließ die jüdische Gemeinde Rotenburgs eine Synagoge auf dem Grundstück hinter dem Haus Brotgasse 19 (= jüdische Schule) bauen, das man passieren musste, um zur Synagoge zu gelangen.