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Am 7. November 1938 beging Herschel Grynspan in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath - in verzweifeltem Zorn über die Verfolgung seiner Familie und Glaubensgenossen. Für Hitler und Goebbels war dies ein willkommener Anlass, ihrem fanatischen Judenhass freien Lauf zu lassen und die deutsche Bevölkerung zu "Sühnemassnahmen" aufzuhetzen Grynspans Tat wurde von der NSDAP als Verschwörung des internationalen Judentums gegen Deutschland zum Anlass genommen, nun offen gegen Juden und jüdische Einrichtungen eine Welle der Gewalt wüten zu lassen. Bevor am 9. November aus München von der NS-Führung dazu aufgerufen werden konnte, zogen in Hersfeld, Bebra und Rotenburg wie in einer Reihe anderer Städte und Dörfer, bereits in der Nacht vom 7. zum 8. November und am Tag danach Trupps in Zivil und in Uniform durch die Orte, legten Brände, zerstörten Hauseingänge und Mobiliar jüdischer Geschäfte und Wohnungen und nahmen zahlreiche Juden in "Schutzhaft". Von den nächtlichen Ereignissen berichtete die Hersfelder Zeitung am 9. November 1938 mit dem Titel: "Ein flammendes Warnungszeichen". Der Bericht endet mit dem bedeutungsvollen Satz: " Es wird nun nicht lange dauern, bis Hersfeld judenfrei ist". Wie recht die Zeitung hatte. Von den nächtlichen Vorgängen berichtete der damalige Augenzeuge Karl G., dass die anwesende Jugend am Schillerplatz und in der Dudenstraße während des Brandes der Synagoge, als der Dachreiter funkenstiebend in die Tiefe stürzte, riefen: "Enner, Zwo, Dräi, Bruder Lolls".("Schlachtruf" der Hersfelder zum jährlich gefeierten Lullusfest, dem größten Volksfest in der Region.)
Bericht der Kriminalpolizei:
Zu den nächtlichen Übergriffen stellte die Kriminalpolizei fest, dass die Synagoge aus unbekannten Gründen völlig ausgebrannt sei und einige jüdische Häuser Sachbeschädigungen erlitten. Zum eigenen Schutz nahm man hiesige männliche jüdische Einwohner in Schutzhaft Es wurde auch die Beobachtung gemacht, dass sich unter den Menschenmassen sehr viele Fremde befanden. Bestraft wurde niemand, auch nicht nach dem Krieg. Über Misshandlungen von Juden enthält der Bericht nichts, obwohl dies von Zeitzeugen später für einigen Fälle bestätigt wurde. Dem Bericht der Kriminalpolizei war eine Schadensmeldung des Stadtbauamtes beigefügt, die den vorläufigen Gesamtschaden auf 42 980 bis 45 000 Reichsmark bezifferte.
Die Partei bestimmt.:
Wie sehr die Partei, die NSDAP, in die Unruhen verwickelt war, geht aus mehreren Anordnungen und Schreiben der höchsten Parteispitzen hervor.
Ein als höchstes Staatsgeheimnis angelegtes Funkschreiben der Polizei an den Landrat bestätigt dies, da es befiehlt, "... sobald von Gauleitungen Anweisung zur Beendigung der Aktionen vorliegt, dafür sorgen usw."
Liste der Festgenommenen:
Im Staatsarchiv Marburg befindet sich eine Liste mit 21 Namen der im November 1938 festgenommenen Juden aus dem Kreisgebiet. Unter ihnen sind acht Hersfelder Juden. Hier ihre Namen:
1. Hirsch, Sally (Hersfeld 61 Jahre, Bäcker)
2. Hirsch, Albert (Hersfeld 35 Jahre, Bäcker)
3. Goldschmidt, Siegm. (Hersfeld 73 Jahre, Handelsmann)
4. Goldschmidt, Max Hersfeld (36 Jahre, Arbeiter)
5. Goldschmidt, Simon (Hersfeld 54 Jahre, Handelsmann)
6. Goldschmidt. Susm. (Hersfeld 86 Jahre, Handelsmann)
7. Metzger, Aaron (Hersfeld 74 Jahre, Privatmann)
8. Schwab, Siegmund (Grebenau 72 Jahre, Schuhmacher am 10.11.in Hersfeld festgenommen)
9. bis 21. sind Namen von Juden aus dem Kreis Hersfeld.
Eine weitere Liste enthält die Namen der Juden, die festgenommen und nach Kassel überführt wurden, darunter befanden sich auch drei Hersfelder:
Goldschmidt, Max, geb. 3.08.02 in Hersfeld, Lederarbeiter
Hirsch, Albert, geb. 29.01.03 in Hersfeld, Bäcker
Hirsch, Sally, geb. 4.11.77 in Hersfeld, Bäckermeister
Man scheute sich nicht, die Kosten für die Überführung der Gefangenen von Hersfeld nach Kassel den Angehörigen in Rechnung zu stellen.
Berücksichtigung mildernder Umstände:
Gemäß einer Verfügung sollten bestimmte Personen, Jugendliche, Ältere mit Verdiensten für das Vaterland usw., vorzeitig entlassen werden. Sally Hirsch, Bäcker in der Breitenstraße, besaß als Weltkriegsteilnehmer das "Ehrenkreuz für Frontkämpfer" und hätte vorzeitig entlassen werden müssen. Er wurde trotzdem mit seinem Sohn Albert und Max Goldschmidt von Kassel aus in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Erst im Frühjahr kamen sie wieder frei. Aus dieser Zeit blieben lediglich die Kontenblätter der Geldkartei des Konzentrationslager Buchenwald für Albert und Sally Hirsch erhalten.
Zeitzeugen berichten:
Eingeschüchtert und rechtlos protestierte kaum ein Jude gegen die Übergriffe. Betroffen macht heute die Zustimmung oder die Gleichgültigkeit der Hersfelder Bürger, die die nächtlichen Vorgänge scheinbar gelassen hinnahmen. Rundfunk und Zeitungen äußerten sich natürlich nur entsprechend dem offiziellen Sprachgebrauch und fanden Verständnis für die "spontane Volkswut". Um so aussagekräftiger ist ein Brief des ehemaligen Lehrers Chaim Emanuel, der unter dem Eindruck des Geschehens an den Schulrat Wendling geschrieben wurde. Hier eine Abschrift:
Hamburg, den 10.11.38
Herrn Schulrat Wendling, Hersfeld
Dienstag abend und Mittwoch bis
zum Nachmittag wurden unser Schulsaal
und meine Amtswohnung demoliert,
so daß ich fort mußte. Ich konnte Ihnen
die Meldung nicht persönlich machen,
da es mir unmöglich war, auf die
Straße zu gehen. Ich bitte um Mitteilung,
wie ich mich weiter zu verhalten habe.
Welche Ängste muss der Lehrer und die anderen jüdischen Bürger in diesen Tagen ausgestanden haben? Selbst Freunde oder Nachbarn wagten selten und nur versteckt Hilfe zu leisten. Proteste gab es von keiner Seite. Lehrer Emanuel trat seinen Dienst nicht mehr an. Die Schule wurde zum 31. März 1939 geschlossen.
Die Zeitzeugin Käte. J. wohnte 1938 bei ihren Eltern in der Klausstraße. Sie erzählte, dass im Haus dahinter, in der Badestube 8, die Witwe Rosa Grünbaum, geb. Neuhaus, mit ihrer Tochter Berta und einem alten Herrn wohnte, den sie als Opa Grünewald in Erinnerung hat. Frau Grünewald führte die Pension Neuhaus mit Restaurant, in dem es koschere Gerichte gab. In der fraglichen Nacht hörte Käte J. im Haus der Grünewalds lautes Schreien und Poltern. Später erfuhr sie, dass unbekannte Männer den alten Mann unsanft an den Beinen die Treppe hinuntergezogen und Geschirr zerschlagen hatten. In den Berichten der Kriminalpolizei wurden nur die Sachbeschädigungen erwähnt.
Friedrich W. hatte in Erinnerung, dass sein Vater Fritz. W. immer davon sprach, sein Feuerwehrzug sei, wie andere auch, beim Eintreffen am Brandherd von einem "Höheren" angewiesen worden, nicht einzugreifen, sondern in Nebenstraßen zu warten. Leider war ihm entfallen, wer die Anweisung gab. Nach dem Kriege bezeichnete der damalige Bürgermeister Brühl in einem Schreiben an die Spruchkammer den ehemaligen Kreisleiter Kriep als den Mann, der die Feuerwehr hinderte, einzugreifen.
Werner R. hatte gehört, dass Mitglieder des SA-Sturms an diesem Abend unweit der Synagoge in ihrem Stammlokal saßen. Sie wurden von den Vorgängen überrascht (!) und sahen sich das Schauspiel nur aus der Nähe an.
Strafen für die Juden:
Wer nun glaubte, die Pogrome hätten den Nationalsozialisten gereicht, irrte.
Als Folge des Attentats von Paris wurde den Juden in Gesamtheit eine Buße von einer Milliarde Reichsmark auferlegt und weitere einschneidende Gesetze angekündigt. Darunter am 12. November 1938, ergänzt am 23. November, ein Gesetz, nach dem alle Juden zum 1. Januar 1939 endgültig als Unternehmer aus dem Einzelhandel, dem Handwerk und dem Marktverkehr auszuscheiden hatten. Zur Abwicklung der ordnungsgemäßen Übergabe wurden Abwickler und Treuhänder eingesetzt, die die Werte der Häuser und des Bestandes ermitteln mussten und dabei gewisse Richtlinien für die Wertermittlung zu berücksichtigen hatten. Offiziell sollte dies der Gerechtigkeit dienen, tatsächlich hatte man aber eine Benachteiligung der Juden durchaus im Sinn und wollte im eigenen Interesse auch nicht auf den Objekten sitzen bleiben. Lieber benachteiligte man die Juden.
Neben Privatleuten und Firmen waren auch die Kommunen an den freigewordenen Objekten interessiert., wie die Protokolle der Hersfelder Ratsherrensitzungen der nächsten Jahren belegen. Besonders gefragt waren Häuser die in der Innenstadt lagen. So Breitenstraße 22 ( Wertheim ), Dudenstraße 27 ( Daniels ), Klausstraße 18 ( Hahn ), Klausstr. 21 ( N. Stern ) und An der Obergeis 11 ( Bacharach ), das in den letzten Kriegstagen zerstört wurde.
Unter mysteriösen Umständen kaufte die Firma Schilde das Haus Bahnhofstraße 2 ( H. Goldschmidt ) und 4 ( Bacharach-Tannenberg ), Firma André das Haus Breitenstraße 10 (Katz) und Bäcker Franke das Haus Breitenstr. 5 ( Bäckerei Hirsch ). In Klammern die jüdischen Vorbesitzer. Einige Häuser waren aber schon vor 1938, meist "einvernehmlich" mit den jüdischen Vorbesitzern, in andere Hände übergegangen, etwa das Kaufhaus S. Baer in der Klausstraße an Hans Sieling, das Haus mit der ehemaligen Drogerie "Adler" Am Brink, oder das Haus Bahnhofstraße 14 der Klara Nußbaum.