Die
Reaktion der "Ordnungsparteien"
Die heftige Agitation der Antisemiten im Mai/Juni 1893 traf die "Ordnungsparteien"
(Konservative und Nationalliberale) weitgehend unvorbereitet. Der Streit um
die Kandidatenaufstellung des Jahres 1890 hatte seine Nachwirkungen, denn erst
eine Woche vor der Wahl wurde Landrat von Schleinitz (konservativ) mit nationalliberaler
Unterstützung aus Hersfeld wieder nominiert, nachdem er bereits von der
Kandidatur zurückgetreten war, weil ihm von Gutsbesitzern der Keise Hünfeld
und Rotenburg bedeutet wurde, es bestehe "keine Stimmung" für
ihn. Schleinitz befand sich als Gegner jeglichen Antisemitismus ("Ein echter
Christ kann kein Antisemit sein") in einer schwierigen Situation, nachdem
seine Partei mit dem Tivoliprogramm 1892 wesentliche Forderungen der Antisemiten
übernommen hatte. Die Antisemiten bezeichneten ihn wegen seiner Ablehnung
des Tivoliprogramms als einen "warmen Verfechter der Interessen des Judentums"
und waren bemüht, ihn gegen den Kandidaten des Bundes der Landwirte und
der Rotenburger Nationalliberalen, Oberamtmann Otto, Blankenheim, Kreis Rotenburg,
auszuspielen, der in seinem Wahlaufruf verlangte, "daß in einem christlichen
Staate auch nur christliche Richter sein sollten" (Antisemitisches Volksblatt
vom 25.6.1893). Der "Konservative Verein für Kurhessen" hatte
bereits fünf Jahre zuvor einen entsprechenden antisemitischen Passus in
sein Parteiprogramm aufgenommen. Die Möglichkeiten, im Rahmen der Konservativen
Partei antisemitische Vorstellungen zu propagieren, war schon 1881 im Wahlkreis
Hersfeld durch die erfolgreiche Kandidatur des militant-antisemitischen Konservativen
Franz Perrot sichtbar geworden. Die fehlende geschlossene Linie, die sich schon
bei der Kandidatenaufstellung zeigte und sich in der grundsätzlichen Einstellung
zum Problem des Antisemitismus fortsetzte, erschwerte die Position der Konservativen
und der Nationalliberalen, die sich durch den Ansturm der Antisemiten ganz in
die Defensive gedrängt sahen. Diese verstanden es, sich die durch die Kanzlerkrise
erzeugte Unsicherheit auf politischem Gebiete nutzbar zu machen. "Für
viele Zeitgenossen bedeutete nämlich der Sturz Bismarcks die Gefahr, einer
unsicheren politischen Zukunft entgegensehen zu müssen. Man fühlte
sich innen- und außenpolitisch bedroht." (Leuschen-Seppel 1978, S.
135)
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