Schon Ende 1914 kam große Enttäuschung
über den erfolglosen Kriegsverlauf auf. Statt
eines „Ausflugs nach Paris“, der bis
Weihnachten 1914 beendet sein sollte, war
kein Ende des Krieges in Sicht. Das zweite
Kriegsjahr mit Totenlisten und Kriegsanleihen zerstörte die Siegesgewissheit endgültig und in dieser Situation wurden die Schichten, die traditionell dem Antisemitismus zugeneigt
waren, durch weitere verstärkt, die durch die sozialen und psychologischen Erschütterungen
für den Antisemitismus empfänglich geworden waren. Angesichts der riesigen Leichenfelder
an der Somme oder bei Verdun begannen
1916 führende Militärs, sich auf die Niederlage einzustimmen, indem Schuldige für die näherrückende Kapitulation aufgebaut wurden.
Als der erwartete Sieg ausblieb und der Krieg sich hinzog, wuchsen imVolk die
Enttäuschungen und Spannungen. Die
Antisemiten nahmen ihre Hetze wieder auf in
der Erwartung, durch die Ablenkung der
Gefühle auf die Juden die Menschen für ihre Ideologie gewinnen zu können.
Je weiter der Sieg in die Ferne rückte, desto größer wurde die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Ein Sündenbock musste her.
So warfen Antisemiten den Juden vor, sie
würden sich vor dem Kriegsdienst drücken und übermäßig von der Kriegswirtschaft profitieren.
In dem  Glauben und in der Hoffnung, dass
durch ihren Waffendienst die Integration in
und die Akzeptanz durch die deutsche Gesellschaft gefördert und gesichert werden möge, waren junge jüdische Männer im August 1914 zu den Fahnen geeilt. Doch nur wenig später wurde diese Hoffnung bitter enttäuscht.

Im Verlauf des Jahres 1916, also mitten im
Ersten Weltkrieg, wandte sich in Deutschland
die Stimmung schlagartig gegen die Juden, entstand eine neue Welle von Antisemitismus.
Die Enttäuschung über den Umschwung der militärischen Lage und die mit dem Krieg verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten schufen in weiten Kreisen eine Umbruchsituation mit dem Gefühl der Unsicherheit, in der man bereitwillig auf die Juden als Sündenböcke zurückgriff und die durch vielerlei Nöte des Kriegsalltags entstandene Missstimmung auf
die seit je verfemte Minderheit lenkte.

Auf die Antisemiten hatten weder Kriegsaufrufe jüdischer Organisationen noch gar der Fronteinsatz Zehntausender jüdischer Soldaten Eindruck gemacht. Im Gegenteil: Angesichts
des ungünstigen Kriegsverlaufs verstärkt sich
der Antisemitismus im Feld und in der Heimat.
Immer lauter wird der Verdacht vorgebracht,
die Juden erfüllten ihre Pflicht nicht, bis im
Herbst 1916 das Kriegsministerium die sogenannte „Judenzählung“ anordnet, um dem Vorwurf auf den Grund zu gehen, Juden hätten sich vom Frontdienst gedrückt. Antisemitischen Phantastereien wird durch die Zählung ein
quasi-amtlicher Stempel aufgedrückt; die Wirkung dieser Maßnahme auf die deutschen Juden, die mit solcher Begeisterung ins Feld gezogen sind, ist von erschütternder Wucht.

  
Deutsche Frauen werden aufgefordert, jüdische Mütter vor Diffamierungen gegen ihre Söhne in Schutz zu nehmen.

Die „Judenzählung“ unter den Soldaten am 1. November 1916 sollte überprüfen, ob sich jüdische Deutsche vor dem Fronteinatz drückten. Das traf nicht zu, doch nach dem Krieg mussten sich die Juden mit Plakaten gegen diese Diffamierung wehren.