Der
Inhalt der nationalsozialistischen Propaganda und deren Aufnahme
Die ständige Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation schien die
Richtigkeit der nationalsozialistischen Prophezeiungen zu beweisen. Die Schuld
an der negativen Entwicklung gaben die Nationalsozialisten der Mißwirtschaft
der Regierung und Verwaltung und der parlamentarischen Regierungsform, die abgelöst
werden müsse durch eine auf die Bedürfnisse und den Charakter des
nordischen Menschen zugeschnittene Staats- und Gesellschaftsordnung. Die Drahtzieher
und Nutznießer des Niedergangs Deutschlands sei das internationale Judentum,
dessen vordringliches Ziel darin bestehe, im Bündnis mit dem internationalen
Marxismus Deutschland zu unterjochen. Die jüdische Weltverschwörung
ziele darauf ab, die germanischen Völker, insbesondere die deutsche Nation,
dem jüdischen Untermenschentum willfährig zu machen. Auf diese Weise
konstruierten die Nationalsozialisten eine Gefahr, um in der Bevölkerung
Stimmung zu machen für radikale Maßnahmen.696) In Gottfried Feders
Programm zur "Brechung der Zinsknechtschaft" hieß es: "Die
Weltfinanz schickt sich an, den Thron dieser Welt zu besteigen, um den alttestamentarischen
Weltmachtstraum des Judentums zu verwirklichen ... Da erhebt sich germanisch-nordischer
Geist und reißt das Banner der Ehre und Freiheit des Geistes und der Arbeit
hoch und nimmt den größten Kampf auf gegen alle Mächte der Finsternis,
des Geldes und der Korruption und gegen deren Trabanten und Helfershelfer, gegen
den Marxismus."697)
In ihren Versammlungsreden dichteten die Nationalsozialisten den Juden ein Abscheu
erregendes Verhalten an. Am 10. 3. 1929 erklärte der Student Bergemann
in Hilmes im Rahmen eines öffentlichen Vortrages: "Das jüdische
Religionsgesetz verlangt, daß das an Nichtjuden abgegebene Fleisch vorher
verunreinigt und besudelt werden muß."698) Mit dem Antisemitismus
rannten die Nationalsozialisten bei der ländlichen Bevölkerung offene
Türen ein. Mit ihren judenfeindlichen Parolen - insbesondere mit ihrem
antikapitalistischen (=antisemitischen) Mittelstandsprogramm - stießen
die Nationalsozialisten im Kreis Hersfeld auf wohlvorbereiteten Boden, hatte
doch eine Generation vorher die antisemitischen Bewegung eine entsprechende
Tradition begründet, wenn auch im wesentlichen auf sozialer und kaum auf
politisch-ideologischer oder rassistischer Grundlage.Durch die geschickte Verquickung
von Antikapitalismus und Antisemitismus waren die Nationalsozialisten der Gefahr
enthoben, von den Bauern und Handwerkern als sozialistische Partei beargwöhnt
zu werden. Die Kampfansage an das mobile Kapital, das Leihkapital, verbanden
die Nationalsozialisten zudem mit der Garantieerklärung für das immobile
Kapital, den Grundbesitz und die Produktionsmittel. Es wurde bald deutlich,
daß das Attribut "sozialistisch" für die NSDAP eine Leerformel
war, die allenfalls eine ständische Gesellschaftsordnung beinhaltete, keineswegs
aber gemeinwirtschaftliche Gestaltungen des Wirtschaftslebens.699)
Auf diese Weise fand die NSDAP den richtigen Ansatzpunkt für die Eroberung
des handwerklichen und gewerblichen Mittelstandes. Viele Angehörige dieser
Schicht hatten durch den Krieg und seine Folgen - insbesondere die Inflation
- ihre soziale Deklassierung erleben müssen und sahen sich in ihrer wirtschaftlichen
Existenz durch die Verschärfung der Krisensituation erheblich bedroht.
In der nationalsozialistischen Heilslehre bot sich ihnen ein Weg aus allen Nöten
an, den sie bereitwillig beschritten.
Die wirtschaftspolitischen Ziele, die von den Nationalsozialisten verkündet
wurden, Steuererleichterung, Zinsermäßigung und Preise, die einen
Profit garantierten, sowie der ausgiebige Gebrauch von konservativen Ideen und
Schlagworten waren dazu angetan, der NSDAP in besonderer Weise den Zugang zu
den bäuerlichen Wählerschichten zu öffnen.706) Der zündende
Funke war die nationalsozialistische Formel vom Bauernstand als dem Fundament
des gesamten Deutschland.707) Viele Bauern kamen zu der Überzeugung, die
Wiederherstellung ihrer ökonomischen Position und ihres sozialen Ranges
sei nur möglich durch eine revolutionäre Bewegung, die die Folgen
des verlorenen Krieges und der industriellen Entwicklung durch staatliche Interventionen
beseitige. Der Preissturz in der Viehwirtschaft machte den Antisemitismus virulent,
da der Viehhandel - besonders in Nordhessen - überwiegend von Juden betrieben
wurde.703)
Übereinstimmend ist in den Polizeiberichten davon die Rede, daß die
Nationalsozialisten hauptsächlich in den Versammlungen ungeteilten Beifall
erhielten, in denen sich die Zuhörerschaft vornehmlich aus Kreisen der
Landwirtschaft rekrutierte. Vor allem jüngere Bauernsöhne ließen
sich von den NS-Parolen beeindrucken.701) Die Landwirtschaft war durch die Wirtschaftskrise
rasch in eine akute Notlage geraten, die sich simplifizierend nun sehr leicht
agitatorisch zu Lasten der Demokratie und ihrer Einrichtungen nutzen ließ.
Breite Schichten der bäuerlichen Bevölkerung mußten dem Nationalsozialismus
schon deshalb besonders aufgeschlossen gegenüberstehen, weil er den Bauern
in der ständischen Gliederung des neuen Staates eine Vorrangstellung versprach.
Die Bauern waren durch die Inflation von ihren alten Hypothekenschulden befreit
worden und hatten im Vertrauen auf den allgemeinen Aufschwung der deutschen
Wirtschaft reichlich neue Kredite aufgenommen. Das Sinken ihrer Einnahmen seit
Beginn der Wirtschaftskrise bereitete ihnen Schwierigkeiten bei der Rückzahlung
der geborgten Gelder und der hohen Zinsen.702)
Ergänzend zur Unterwanderung der landwirtschaftlichen Organisationen lief
ab Herbst 1930 der Aufbau landwirtschaftlicher Fachabteilungen der NSDAP in
den Gauleitungen. Dem agrarpolitischen Apparat des Gaues Kurhessen der NSDAP
stand mit Walter Seidler (Landershausen), Führer der NS-Ortsgruppe Schenklengsfeld,
ein Landwirt aus dem Kreis Hersfeld vor, der als Gutsverwalter für den
Vorsitzenden des Kreisbauernvereins, Reinhard, tätig gewesen war und am
14. September 1930 in den Deutschen Reichstag gewählt wurde.711)
Der Einfluß der NSDAP auf die Bauern verdeutlichte sich bei der Aufstellung
der Kandidatenliste für die Landwirtschaftskammerwahlen im Spätherbst
1931. Die Vertreterversammlung der Ortsbauernvereine nominierte auf ihrer Einheitsliste
als Kandidaten für die Landwirtschaftskammer neben dem deutschnationalen
Gutsbesitzer August Niemeyer (Tann) den Vorsitzenden der NSDAP - Ortsgruppe
Hattenbach, Diplom-Landwirt Karl Patry.713) 13 von 30 neuen Mitgliedern entsandte
die NSDAP in die Kurhessische Landwirtschaftskammer, obwohl nur Hofbesitzer,
nicht aber Jungbauern wahlberechtigt waren.714) Aufgrund der Wahlergebnisse
für die Landwirtschaftskammern formulierte die NSDAP ihren Anspruch auf
Übernahme von Positionen innerhalb des Landbundes.715) 1932 wurde Gutspächter
Walter Seidler aus Landershausen, zum stellvertretenden Vorsitzenden des Kurhessischen
Landbundes gewählt.716)
Die Grundlage zu der Allianz zwischen den Organisationen der Landwirtchaft und
der NSDAP und den Resonanzboden in der Landbevölkerung für nationalsozialistische
Agitation hatten die Bauernführer bereits seit Kriegsende mit hetzerischen
Attacken gegen die republikanischen Parteien und ihre lokalen Repräsentanten
ausgiebig vorbereitet. Zum Beispiel hatte der Kreisbauernverein in öffentlichen
Versammlungen dem Jungdeutschen Orden während dessen Verbots durch die
preußische Regierung Gelegenheit zur Agitation gegeben.718) Als antirepublikanische
Demonstration mußte auch die Verwendung der schwarz-weiß-roten Flagge
bei offiziellen Veranstaltungen des Kreisbauernvereins gelten.719) Kennzeichnend
waren ebenso die Reaktionen auf die Amtsenthebung des militant-antisemitischen
Justizobersekretärs und NS-Kreistagsabgeordneten (seit 1929) Breitstedt
(vgl. FN 733 bzw. AG Schenklengsfeld)
Für den Hersfelder Kreisbauernverein trifft offenbar die Charakterisierung
zu, die Eberhard Kolb der großen Mehrheit der Agrarverbände gegeben
hat, nämlich "eine der Hauptstützen des rechtskonservativen Antiparlamentarismus
der Weimarer Republik" gewesen zu sein.720)