Zwei Opfer zum anfassen

Moshe Naveh und Judith Epstein berichten über ihre Flucht vor dem NS-Regime
Von Annika Rausch

BAD HERSFELD.
„Es ist für mich eine Reise in eine Vergangenheit, die ich vergessen wollte", erklärte Moshe Naveh gestern den Schülern der neunten Klasse der Konrad-Duden-Schule.
Trotzdem hat er, zusammen mit seiner Cousine Judith Epstein, die lange Reise aus Tel Aviv auf sich genommen. Die beiden, die früher die Namen Manfred Oppenheim und Ilse Speier trugen, mussten in der NS-Zeit aus Deutschland flüchten, weil sie Juden waren.
Mucksmäuschenstill saßen die Mädchen und Jungen auf, ihren Plätzen, als sie aus erster Hand erfuhren, dass dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte damals auch vor der eigenen Haustür nicht Halt gemacht hat. Unter der Regie ihrer Geschichtslehrerin, Susanne Hofmann, hatten sich die 13- bis 14jährigen Schülerinnen und Schüler in den vergangenen zwei Wochen intensiv mit dem Thema Nationalsozialismus im Kreis Hersfeld-Rotenburg beschäftigt. Moshe Naveh nahm seinen jetzigen Namen bei seiner Einreise ins damalige Palästina -heute Israel - an. „Ich wollte keinen deutschen Namen mehr tragen", erklärte er seinen aufmerksamen Zuhörern. Seine Eltern hatten in der Badestube 4 in Bad Hersfeld eine Metzgerei besessen, die sie aber in der NS-Zeit aufgeben mussten, obwohl Moshes Vater damals Obermeister der Metzgerinnung war. „Die antijüdischen Lieder kann ich bis heute nicht vergessen", erinnerte sich Naveh, damals zwölf Jahre alt, an die Zeit kurz vor seiner Ausreise im Jahr 1936. In Israel angekommen, schafften es die Navehs nicht, wieder eine Metzgerei aufzubauen. Moshes Vater, der als Soldat im ersten Weltkrieg verwundet worden und in Kriegsgefangenschaft geraten war, kam nicht damit zurecht, dass er von nun an kein Deutscher mehr sein sollte. „Er konnte das nicht überwinden", erzählte Moshe den Jugendlichen vom Freitod seines Vaters.
Ilse Speier, die ihren jetzigen Vornamen im Gedenken an ihre Großmutter trägt, flüchtete aus ihrer Heimat Rotenburg - sie wohnte in der Altstadtstraße 16 - als dort die Synagoge in der Nacht vor der Reichskristallnacht brannte. In Hersfeld angekommen, fand ihre Familie dort dasselbe Bild vor. „Die Synagoge brannte. Die Straßen waren voll und die Menschen haben gefeiert. "In Frankfurt, wo die Eltern Ilse und ihre ältere Schwester in ein Waisenhaus gegeben hat- ten, „war es noch schlimmer", erinnerte sie sich mit belegter Stimme. Doch die Entscheidung der Eltern, ihre Töchter in eine Einrichtung zu geben, die damals allen jüdischen Kindern offen stand, rettete den beiden Schwestern das Leben. 1940 konnten die Kinder Deutschland verlassen und reisten zu Moshes Familie nach Palästina. Ihre Eltern - das erfuhr sie erst Jahre später - sind in Auschwitz umgebracht worden. „Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass meine Eltern nicht mehr da sind und meine Schwester und ich nun ganz allein auf der Welt sind", sagte Judith Epstein.

Einen eisernen Vorhang über diese Zeit gelegt

Mit einem Fragenkatalog in der Hand hatten die Schüler ihren Besuch, Moshe Naveh und Judith Epstein aus Israel, schon gespannt erwartet. „Die Kinder haben sich super vorbereitet", lobte Geschichtslehrerin Susanne Hofmann, die ankündigte, dass die Klasse ihre Unterrichtsergebnisse in einer Ausstellung präsentieren werde. absolut offen berichteten Naveh und Epstein über ihre Erlebnisse. Und der Verlust des Vaters oder der Tod von Judith Epsteins Eltern in Auschwitz machten die Jugendlichen sichtlich betroffen. Dr. Heiner Nuhn, passionierter Forscher zur Geschichte der jüdischen Minderheit im Raum Bad Hersfeld-Rotenburg, hatte die beiden nach Bad Hersfeld eingeladen. „Es ist meine Pflicht, für die nächsten Generationen etwas zu hinterlassen", erklärte Moshe Naveh seine Motivation für diese Reise. Während seine Cousine Judith schon immer in ihrer Familie über ihre Zeit in Deutschland gesprochen hatte, erzog er seine Familie so, als ob ihr Leben in Israel erst angefangen hätte. „Ich hatte einen eisernen Vorhang über die Zeit damals gelegt", erklärte Naveh. Zwei Stunden lang sprachen die beiden mit den Schülern der neunten Klasse der Konrad-Duden-Schule, bevor sie von Bad Hersfelds Bürgermeister Hartmut H. Boehme, im Rathaus empfangen wurden. Ob so etwas wie damals wieder geschehen könne, fragten die Jugendlichen. „Ich will nicht glauben, dass das noch mal passieren kann, aber ich bin nicht sicher", antwortete Naveh. Doch je offener miteinander gesprochen werde, desto geringer seien die Chancen dafür. (AR)

[>[> Unter www.ag-spurensuche.de sind die Schicksale von Moshe Naveh und Judith Epstein noch einmal zum Nachlesen aufbereitet worden, zusammen mit weiteren Informationen zur Forschung von Dr. Heinrich Nuhn.