Erinnerungen
eines alten Baumes
Von
Sabine Schuchardt
Schon als ganz junger Baum hat sich die Eiche entschlossen, ihre
Erlebnisse und Gedanken aufzuschreiben. Im Mai 1704 macht sie ihren
ersten Tagebucheintrag.
Da sich unter ihrem Blätterdach schon so mancher Reisende ausgeruht
hat, weiß sie eine Menge von den Menschen, die auf ihrer Handelsroute
von Rhina nach Ker-spenhausen an ihr vorbeikommen. Zu dieser Zeit
sind es vor allem jüdische Kaufleute und Bauern, die Rast bei
ihr machen. Deswegen wird der Baum auch die
„Judeneiche" genannt. Der Name ist bis heute erhalten
geblieben, obwohl viele den Ursprung vergessen haben.
Die „Judeneiche - ein fiktives Tagebuch" ist eine Sammlung
von Momentaufnahmen, die zu einem geschichtlich aussagekräftigen
Mosaik zusammen gesetzt sind und die sich mit der jüdischen
Geschichte in Rhina befassen. Das fiktive Tagebuch, herausgegeben
von Dr. Heinrich Nuhn, erinnert an die Besonderheit des kleinen
Dörfchens Rhina, das im Kreis Hersfeld-Rotenburg liegt: Viele
Jahrzehnte wohnten dort mehr Juden als Christen. Die in Schreibschrift
verfassten Einträge künden von den stetig wachsenden Problemen
der jüdischen Bevölkerung. Sie werden ihrer Rechte beraubt,
beschimpft, misshandelt und letzten Endes sogar von den Nationalsozialisten
umgebracht.
„Ich verstehe die Menschen einfach nicht", lautet deshalb
oftmals das Resümee der Eiche. Um-so unverständlicher
ist es für den Baum, dass sich über lange Jahrzehnte danach
niemand mit dieser leidvollen Vergangenheit beschäftigen will,
das jüdische Leben in Rhina regelrecht „ausgeblendet"
wird, so als habe es nie existiert. Für diesen ungewöhnlichen
Weg, deutsch-jüdische Vergangenheit in der hiesigen Region
aufzuarbeiten, hat die Rotenburger Arbeitsgruppe Spurensuche beim
Wettbewerb der Preisstiftung 2002 („Der Baum - Begleiter des
Menschen") der Hessischen Akademie der Forschung und Planung
im ländlichen Raum den ersten Preis bekommen.
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