Die aus heutiger Sicht rigorosen Verfügungen
erscheinen in einem milderen Licht, wenn man sie in den Zusammenhang des zeitgenössischen
Umgangs mit der jüdischen Minderheit rückt. Immerhin war den Juden
in Landgraf Philipps Hessen der ihnen in den 1520er
Jahren verweigerte Aufenthalt seit 1532 wieder erlaubt. Damit ignorierte Philipp
- ebenso wie der sächsische Kurfürst - das Kaiser Karl V. auf dem
Augsburger Reichstag 1530 bestätigte Privileg des Judenregals, d.h. das
Verfügungsrecht über die Juden in den einzelnen Territorien. Die
Judenordnung von 1539 bestätigte das Aufenthaltsrecht der Juden und ignorierte
dabei Vorstellungen, die der Straßburger Theologe Butzer in einem von
Philipp angeforderten Gutachten entwickelt hatte. In diesem war dem Landgrafen
- als Vollstreckung des göttlichen Urteils - empfohlen worden, die Juden
in den untersten Stand hinabzudrücken und ihnen lediglich die mühseligsten
und ungewinnlichsten Arbeiten zu gestatten, zum Beispiel Schornstein
und Kloaken fegen. Selbst wenn die Juden sich durch diese Behandlung
nicht von ihrem Glauben abbringen ließen, diene sie doch den Christen
zum Exempel, um sie von der Gottlosigkeit abzuschrecken, deren Straf
und Buss an den Juden so ernstlich vor Augen wär. Butzers Empfehlungen
fanden bei Philipp, dessen Handeln von humanerem Denken bestimmt war, keine
Gegenliebe. Ebensowenig beeindruckte den Landgrafen der Sinneswandel Luthers,
der nach seiner Enttäuschung über die ausgebliebene freiwillige
Bekehrung der Juden in seinen späteren Jahren eine scharfe Barmherzigkeit
diesen gegenüber forderte, d.h. eine Steigerung ihres Elends, um sie
auf diese Weise zum Abschwören ihres Unglaubens zu bringen.
Nach dem Tod Landgraf Philipps (1567) und der Aufteilung der Landgrafschaft
unter seinen vier Söhnen galten für die hessischen Juden unterschiedliche
Existenzbedingungen. Während die neuen Regenten in Marburg, Rheinfels und
Darmstadt sich von ausgesprochen judenfeindlichen Ratgebern beeinflussen ließen,
wehrte der Kasseler Landgraf Wilhelm IV. entsprechende Bestrebungen erfolgreich
ab. Der Forderung des Gießener Pfarrers Nigrinus, keine Andersgläubigen
im Lande zu dulden, hielt Wilhelm (in einem Brief an seinen Bruder, Landgraf
Ludwig IV. zu Marburg) entgegen: davon doch Gott der Herr gar kein Gebot
hat gegeben. Vielmehr glaubte sich Wilhelm, dem bereits seine Zeitgenossen
den Beinamen der Weise gaben, mit dem Apostel Paulus in der Frage
der Schutzgewährung für alle Bewohner seines Territoriums einig, sie
seien gleich welcher Religion sie wollen. Neben dieser theologischen Begründung
waren es aber auch nüchterne Überlegungen eines undogmatischen Fürsten,
die den im Herrschaftsbereich Wilhelms IV. angesiedelten Juden zugute kamen.
Auch als ökonomisch denkender Herr war ihm die Verfolgung oder gar
Ausweisung von Untertanen der Religion halber unverständlich.