Unterschiedliches Wählerverhalten innerhalb der Gemeinden des Landkreises Hersfeld
Schon im ersten Wahlgang führte Werner im Kreis Rotenburg und hatte eine klare Mehrheit im Ostteil des Kreises Hersfeld hinter sich, während er in der Kreisstadt und im Westteil des Kreises Hersfeld dem konservativen Landrat weit unterlegen war; eine Ausnahme bildeten hier nur antisemitische Mehrheiten in sieben Gemeinden im Südwesten: Kemmerode, Hattenbach, Kleba, Niederjossa, Solms, Kruspis und Stärklos (in Hattenbach und Kleba keine Mehrheit im zweiten Wahlgang. Auch in der Stichwahl konnte Werner im Westen des Kreises Hersfeld keine neuen Anhänger gewinnen. Von den 29 Gemeinden östlich der Linie Friedewald-Malkomes-Wüstfeld stimmten 18 (bei der Stichwahl 17) Gemeinden mit absoluter Mehrheit für den Antisemiten Werner. Von den 1.206 Wählern dieser 29 Gemeinden des östlichen Kreisgebietes (nur 27,3% der gesamten Wählerschaft des Kreises) wurden 731 Stimmen (= 60,6% aller antisemitischen Stimmen im Landkreis Hersfeld) für Werner abgegeben. Die Gründe für diese stark unterschiedliche Stimmabgabe innerhalb der Gemeinden des KreisesHersfeld sind nicht zufälliger Natur und verdienen eine nähere Betrachtung, zumal sich hier eine gewisse Parallelität zum Aufkommen des Nationalsozialismus ergibt.. Der wirtschaftliche Aufschwung hatte sich in der Kreisstadt Hersfeld auch in den 80er und 90er Jahren fortgesetzt, wovon auch die Bauern und Handwerker der unmittelbar benachbarten Ortschaften ihren Nutzen hatten. Das östliche Kreisgebiet (mit Ausnahme des Werratals) aber war gegenüber den meisten Gemeinden des Westens wirtschaftlich stark benachteiligt. Zunächst einmal ist das Fuldatal mit seinen Nebentälern klimatisch mehr begünstigt als der Ostteil des Kreises, der mit Ausnahme des Werratals den Charakter einer Hochebene trägt; der mittlere Frühlingseinzug verspätet sich dort bis zu 10 Tage und der Unterschied in der Vegetationsperiode beträgt sogar bis zu 20 Tage. Die Armut der Bevölkerung in den ehemaligen Ämtern Friedewald und Landeck ist zudem noch historisch bedingt, da nämlich sämtliche Dörfer dieser Ämter aufgrund der Bauernbefreiung im Jahre 1832 schwer mit Zehnten belastet waren, während die Dörfer des Fulda-, Aula-, Geis- und Haunetales zum Teil zehntfrei waren. Die Ablösung dieser Zehnten machte für die Bauern aus den betroffenen Gemeinden die Aufnahme schwerer Hypothekenlasten bei der Landeskreditkasse erforderlich, deren Zinsen sie kaum aufbringen konnten, so dass sie immer mehr verschuldeten. So kam es zu immer häufigerer Zerschlagung der Güter und zu immer größerer Armut in diesen Dörfern. Zwar lagen auch im westlichen Kreisgebiet die Erträge bei allen Fruchtarten unter dem preußischen Durchschnitt, da der Boden auch hier recht karg ist. Dafür aber konnten die Bauern die ertragreichen Weiden des Fulda-, Aula- und Haunetales für eine intensive Weidewirtschaft nutzen und so ein erträgliches Auskommen finden. Die Diskrepanz zwischen westlichem und östlichem Kreisgebiet hatte sich seit 1892 durch Caprivis Zollpolitik und durch Mißernten noch erhöht. Die Preise für Getreide, die Haupteinnahmequelle der Landwirte im Osten des Kreises seit Ende der 70er Jahre, fielen teilweise unter die Gestehungskosten, während die Konjunktur in der Viehwirtschaft sich dadurch weiter günstig entwickelte. Auch verkehrstechnisch war der Westen durch den Bau der Bahnlinie von Bebra über Hersfeld nach Fulda und Frankfurt/Main weitaus besser erschlossen. Noch heute wird der gesamte Nordosten, der Bereich des ehemaligen Amtes Friedewald, die "vergessene Ecke" genannt. Das Landecker Amt (Schenklengsfeld) erhielt erst durch den Bau der Kreisbahn im Jahre 1913 eine Verbindung zu den Hauptverkehrsstrecken (inzwischen stillgelegt). Während die Bevölkerung im Westen des Kreises Hersfeld fast in allen Gemeinden in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts zunahm, hatten viele Orte des Landecker Amtes und der "vergessenen Ecke" einen beträchtlichen Rückgang der Einwohnerzahlen zu verzeichnen. 1859 zählte z. B. Friedewald 1.525 Einwohner, 1890 waren es nur noch 1.025; ein Drittel der Bevölkerung war innerhalb von 30 Jahren nach Westfalen abgewandert oder nach Amerika emigriert. Während zwischen 1865 und 1905 von den 24 Gemeinden des Landecker Amtes und der "vergessenen Ecke" 19 z. T. beträchtliche Bevölkerungsverluste aufzuweisen hatten und sich nur in 5 sehr kleinen Gemeinden ein geringer Anstieg der Bevölkerung vollzog, hatten 10 der 17 Gemeinden des Haune- und Fuldatals eine relativ stark aufsteigende Bevölkerungsbilanz aufzuweisen. Bei diesen Voraussetzungen konnte es den Antisemiten im Osten des Kreises Hersfeld nicht schwerfallen, Anhänger zu gewinnen, zumal in Schenklengsfeld eine recht beträchtliche jüdische Minderheit existierte (1895 = 161 jüdische Einwohner = 11,9% der Bevölkerung), die vorwiegend vom Getreide- und Viehhandel lebte und sich angeblich die Not der Bevölkerung zunutze machte, so daß sich für die Antisemiten gute Agitationsmöglichkeiten ergaben. So soll der damalige Landtagsabgeordnete Zimmermann im Jahre 1880 46 Fälle ermittelt haben, in denen Juden zwischen 30 und 120% Zinsen forderten. Allerdings wurde diese Ausbeutungsmethode auch von christlichen Geldgebern praktiziert. Das Preußische Statistische Amt stellte 1887 in der Tat fest, dass der Wucher als alleinige oder als Mitursache bei Zwangsversteigerungen landwirtschaftlich genutzter Grundstücke am häufigsten im Regierungsbezirk Kassel vorkomme. Allein ein Fünftel aller in Preußen erfassten Fälle entfielen auf Kurhessen, das "klassische Land des Wuchers und der Güterschlächterei". Der Verein für Sozialpolitik legte die wucherische Ausbeutung im Regierungsbezirk Kassel "vorzugsweise den zahlreich vorhandenen jüdischen Handelsleuten zur Last". In Schenklengsfeld wurden in jenen Jahren ca. 15 Bauernhöfe Opfer der Güterschlächterei; die Höfe gelangten meist in den Besitz jüdischer Viehhändler und Kaufleute. Bei Verminderung der Zahl der Zwangsversteigerungen im übrigen Kreisgebiet wird von einer Zunahme im Amtsgerichtsbezirk Schenklengsfeld berichtet. Dies lässt jedoch noch nicht ohne weiteres die Folgerung zu, dass die Juden auch unbedingt zum Niedergang der landwirtschaftlichen Betriebe beigetragen oder sogar die Not der Bevölkerung mitverschuldet haben, wie die antisemitischen Agitatoren behaupteten. Eine Untersuchung des Vereins für Sozialpolitik über "Wucher auf dem Lande" vom Jahre 1887 registrierte zum Beispiel, es sei unverkennbar, dass vielfach die stärksten Übertreibungen vorkommen und dass mancher durch eigene Schuld Zurückgekommene geneigt sei, die Schuld anderen beizumessen, während er selbst durch Trägheit, Genusssucht, unordentlichen Wandel etc. den Vermögensverfall herbeigeführt habe.
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Reichstagswahl 1893 (1.Wahlgang) Stimmenanteile Konservative / Antisemiten
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Reichstagswahl 1893 (2.Wahlgang) Mehrheit konservativ (schwarz) / Mehrheit antisemitisch (schraffiert)
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