Der amerikanische Historiker David Peal hat in seiner 1985 erschienenen Dissertation den Nachweis geführt, dass das kirchlich-offiziöse Kasseler Sonntagsblatt, die mit schließlich 50.000 Exemplaren mit Abstand auflagestärkste Publikation in unserem Gebiet in damaliger Zeit, die antisemitische Bewegung von Anfang an unterstützte. Beispielhaft kommt das in dem Sonntagsblatt-Leitartikel vom 16. Februar 1890 zum Ausdruck: “Was sich nun im Laufe der Zeit als großer Übelstand herausgebildet hat, das ist vor allen Dingen das, dass die Juden mit den Christen jetzt gleiche Rechte genießen. (...) Wir haben im Sonntagsblatt mit Fleiß die Tatsachen aufgeführt, die die Juden ausführen, um einem Jeden zu zeigen, wozu sie fähig sind. Und wir denken, es wird wohl Mancher zu der Überzeugung gekommen sein, zu sagen: ja mit den Juden muss es anders werden. (...) Also, wer nur ein bischen nachdenkt, muss sagen, andere Gesetze müssen allerdings gegen die Juden erlassen werden.” Im gleichen Jahr druckte das Sonntagsblatt Teile aus Böckels Kampfschrift "Die Juden, die Könige unserer Zeit" ab, liess den antisemitischen Kandidaten für Kassel-Land/ Melsungen, Paul Förster, einen Artikel schreiben und gab sogar Empfehlungen zur Lektüre von Ahlwardt, dem unbestritten wüstesten antisemitischen Agitator. “Wen wählen wir also”, fragt das Blatt am 16. Februar 1890 und kommt dann nach ausführlichem jüdischen Sündenregister zu dem Ergebnis: “Es ist deshalb aller Christen Pflicht, dass sie Antisemiten in den Reichstag wählen, die frei und offen vor aller Welt die Schäden aufdecken, an denen unser Volk krankt. (...) Vorwärts, voran an (die) Wahlurne und wählt Antisemiten (...) Andernfalls werden wir aber unserm Untergange immer mehr entgegengehen.” Für den anstehenden zweiten Wahlgang gab das Kasseler Sonntagsblatt die Parole aus: “Wo Antisemiten in Stichwahl kommen, bitten wir unsere lieben Leser wiederholt und dringend, nur Antisemiten ihre Stimme zu geben, denn wir haben hoffentlich zur Genüge dargetan, daß die Juden die Länder ruinieren und nicht die Obrigkeit (...) Dazu gebe der liebe Gott seinen Segen.” In einem Kommentar vom 13. 8. 1893 “Der Wahlausfall und die Juden” wird den Juden gegenüber ein drohender Ton angeschlagen: “Die ‚gesunde Auffassung’, die eben jetzt glücklicherweise beim Volke trotz der Verdunkelungen der jüdischen und judenfreundlichen Presse ‚zum Durchbruch’ zu kommen beginnt, richtet sich ‚zielbewusst’ gegen die jüdische Übermacht und deren zersetzende Einflüsse, und wenn das Judenthum das nicht einsieht und nicht aus sich heraus Anstalten trifft, um wenigstens die ‚Auswüchse’ selber zu bekämpfen, so wird es in absehbarer Zeit grausame Enttäuschungen erfahren.” Ob der Sonntagsblatt-Leitartikler vom August 1893 eine entfernte Vorstellung davon haben konnte, wie die von ihm ausgesprochene Drohung wenige Jahrzehnte später grausame Realität werden würde? Ludwig Friedrich Föbus, der die Zeitung 1879 gegründet hatte und über Jahrzehnte als Herausgeber prägte, bekannte in der Ausgabe vom 20. August 1893: “Der Verleger dieses Blattes ist Antisemit von ganzer Seele.” Nach seiner Überzeugung “kann kein vernünftiger Mensch glauben, dass Gott den Juden das Recht gegeben hat, das Christenvolk nach Herzenslust auszuziehen; dieses ist nur eine Folge unserer gesamten Sünde und Kopflosigkeit, besonders auch der Großen, denn die Juden gehören unter ein Ausnahmegesetz und weiter nichts. Wir brauchen sie nur zu dulden, aber nicht über uns herrschen zu lassen, und wäre es auch nur durch die Macht des Geldes.” In der Ausgabe vom 14. August 1892 registrierte das Sonntagsblatt mit großer Erleichterung: “Niederaula. Endlich scheint die antisemitische Partei auch im Kreise Hersfeld ihren Einzug halten zu wollen. Es findet nämlich am Sonntag den 21. August, Nachmittags von 3 Uhr ab, für hier und Umgebung eine antisemitische Zusammenkunft in der Eichmann’schen Wirthschaft hier statt, wozu Jedermann ( Juden ausgeschlossen) freundlichst eingeladen ist. Redner ist Herr Reichstagsabgeordneter L. Werner, welcher über das Thema: ‚Die Gleichstellung der Juden im deutschen Staate’ spricht.” Eine grosse Genugtuung sieht das Sonntagsblatt in dem Wahlausgang 1893 - fünf der 16 Wahlkreise, in denen Antisemiten das Reichstagsmandat eroberten, lagen in Kurhessen. Triumphierend und zugleich drohend der Wahlkommentar vom 13.8.1893: “Die gesunde Auffassung’, die eben jetzt glücklicherweise beim Volke trotz der Verdunkelungen der jüdischen und judenfreundlichen Presse ‚zum Durchbruch’ zu kommen beginnt, richtet sich ‚zielbewußt’ gegen die jüdische Übermacht und deren zersetzende Einflüsse, und wenn das Judenthum das nicht einsieht und nicht aus sich heraus Anstalten trifft, um wenigstens die ‚Auswüchse’ selber zu bekämpfen, so wird es in absehbarer Zeit grausame Enttäuschungen erfahren.” Peal räumt ein, dass die tatsächliche persönliche Mitwirkung der protestantischen Geistlichkeit nur schwer nachweisbar sei, aber wenn das, was im Sonntagsblatt stand, mit den sonntäglichen Predigten übereinstimmte, dann seien die evangelischen Pfarrer mitverantwortlich für die Erfolge der antisemitischen Bewegung: "then the pastors indeed shared responsibility for the progress of the anti-Semitic movement". Von dem antisemitischen Wirken eines Pfarrers in Hersfeld findet sich ein Bericht in den Jugenderinnerungen von Samuel Spiro, dem Sohn des jüdischen Lehrers bis 1899 in Schenklengsfeld. Samuel Spiro schrieb 1948 in Israel: "Als einmal bei einer Wahl zum Preußischen Landtag, dessen Abgeordnete in öffentlicher Stimmabgabe durch sogenannte Wahlmänner gewählt wurden, der nicht antisemitische Kandidat gegen den antisemitischen Kandidaten mit einer Stimme Mehrheit siegte, ließ der Pfarrer seine wahre Gesinnung durchblicken. Mein Vater war einer der Wahlmänner, und seine Stimme hatte gewissermaßen den Ausschlag bei der Wahl gegeben. Er musste zum Zwecke seiner Stimmabgabe als ‚Wahlmann’ nach der Kreisstadt Hersfeld fahren und daher den Schulunterricht für diesen Tag ausfallen lassen. Der Pfarrer, der offenbar unzufrieden mit dem Wahlausgang war, liess als staatlicher Schulinspektor, der er war, meinen Vater in sehr erregtem Ton durch mich auffordern, den Schulunterricht nicht ohne seine, des Schulinspektors, vorherige Genehmigung auszusetzen.
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