Beispiele aus dem osthessischen Raum weisen den aktiven Part nach, den protestantische Geistliche im Rahmen der Raiffeisenbewegung allgemein, aber auch hinsichtlich deren antijüdischer Polemik übernahmen, obwohl sich die zentrale Raiffeisenführung vom Antisemitismus distanziert hatte. Die Initiative zur Gründung von Raiffeisenkassen im Kreis Hersfeld war von Landrat von Broich ausgegangen, der aus seiner früheren Tätigkeit im Rheinland Raiffeisens Einrichtungen kennengelernt hatte und im landwirtschaftlichen Kreisverein, in Bürgerversammlungen, in Lehrerkonferenzen und im Kreisblatt für die Einrichtung von Darlehenskassen warb. In gleicher Richtung betätigte sich auch sein Nachfolger, Landrat von Schleinitz, der aber "dem politischen Antisemitismus abhold" war, wie er in der Hersfelder Zeitung vom 20. 11. 1888 verlautbaren liess. Landrat von Broich sah in den örtlichen Raiffeisenkassen Wirkungsstätten für Parteiaktivitäten zugunsten der Konservativen; deshalb versuchte er den Anschluss der Raiffeisenkassen in seinem Wirkungsbereich an einen überregionalen ("unpolitischen") Dachverband zu verhindern, hatte dabei aber keinen Erfolg. In Friedewald im Kreis Hersfeld war es 1879 zur Gründung einer Raiffeisen-Darlehenskasse gekommen, der ersten in ganz Kurhessen. Federführend war daran der Friedewälder Ortspfarrer Haupt beteiligt, der seine antisemitische Gesinnung vehement zum Ausdruck brachte. Noch anlässlich des 50. Jahrestages der Gründung der örtlichen Raiffeisenkasse wurde Haupts antisemitisches Engagement von seinem Amtsnachfolger, Pfarrer Eckhardt, an seinem Grab in Friedewald gewürdigt (laut Beilage Nr. 40 des “Raiffeisenboten”). Der Antisemitismus war nicht Teil der offiziellen Verbandspolitik, wohl aber ein wesentlicher Faktor, auf dem die Raiffeisensche Verbandsarbeit aufbauen konnte. Unterstützt wurde dieser Effekt ganz zweifellos durch die gleichzeitige Propagierung von Antisemitismus und Raiffeisenorganisation im kirchlich-offiziösen Kasseler Sonntagsblatt, das bei der protestantischen Bevölkerung Kurhessens stärker als jedes andere Druckerzeugnis verbreitet war. Sonntag für Sonntag las man in den evangelischen Haushalten die Botschaft von den Segnungen der Raiffeisenkassen und dem durch sie zu erwartenden Ende des angeblich wucherischen Treibens der jüdischen Geldverleiher und Händler.
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Statuten der Raiffeisenkasse Friedewald mit dem Porträt von Pfarrer Haupt.
     
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