Die politische Bewegung des Antisemitismus trug im Wahlkreis Hersfeld keinen spontanen Charakter, sondern wurde erst zu einem Zeitpunkt von aussen hineingetragen, als der “Wucher” und damit die unterstellte ökonomische Machtstellung der Juden längst ihren Höhepunkt überschritten hatten. Der bäuerliche und gewerbliche Mittelstand setzte die soziale Frage erst nach der Berieselung durch die antisemitische Agitation mit der Judenfrage gleich.
Mit der sich im Prinzip unvermittelt auf ein bestimmtes, für Wahlerfolge geeignet erscheinendes Gebiet konzentrierenden antisemitischen Agitation liefert der Wahlkreis Hersfeld ein gutes Beispiel für die auch von David Peal beschriebene Strategie antisemitischer Wahlfeldzüge. Unter Hinweis auf den fehlenden Zusammenhang zwischen antisemitischen Wahlerfolgen und dem Ausmaß des (jüdischen) Wuchers, wie er in der Erhebung des Vereins für Sozialpolitik ("Wucher auf dem Lande") für die verschiedenen Teile des Deutschen Reiches nachgewiesen wurde, kommt Peal zu dem Ergebnis, dass die antisemitischen Wahlerfolge in Kurhessen ebensowenig wie im Großherzogtum Hessen und in Sachsen als unmittelbare Antwort der dort wohnenden Bevölkerung auf wucherische jüdische Ausbeutung zu erklären seien. Die Erfolge in Kurhessen und Oberhessen, so Peal, waren vielmehr das Ergebnis konzentrierter Bemühungen der reichsweiten antisemitischen politischen Bewegung auf diese Gebiete, die aufgrund von Überbevölkerung und struktureller Unterbeschäftigung aus den Zeiten des Vormärz als besonders geeignetes Agitationsfeld erschienen. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts gelang hier die volle Integration in den größeren deutschen Wirtschaftsraum und die veränderten politisch-gesellschaftlichen Realitäten. Als zusätzliche Elemente mit Erfolgsaussicht für die antisemitische Agitation nennt Peal die für Kurhessen und Oberhessen geltende politische Indifferenz und schwache Verankerung der anderen Parteien. Die anderen Parteien waren nicht in der Lage, die Probleme, die sich aus der Liberalisierung des Wirtschaftslebens und dem Verfall der traditionellen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ergaben, politisch zu verarbeiten.
Die Umstellung von der Naturalwirtschaft auf die Geldwirtschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts fiel den Landwirten nicht leicht. Mit der Aufhebung der Hörigkeit waren die Bauern zwar persönlich frei geworden, aber nicht auf die Spielregeln der freien Marktwirtschaft eingestellt. In dieser Situation wurden die jüdischen Händler, die aufgrund der ihnen zudiktierten Rolle (z. B. Verweigerung der Zunftmitgliedschaft) in den Praktiken des Wirtschaftskampfes geübt waren, die Nothelfer für die in Schwierigkeiten befindlichen Bauern. Begünstigt wurde die Finanznot durch einen regelrechten Landhunger der ländlichen Bevölkerung. Wo immer ein verschuldetes Gut vereinzelt wurde, fanden sich Käufer in ausreichender Zahl. Da diese nur in den wenigsten Fällen über genügend Barmittel zur Finanzierung des Landkaufs verfügten, gerieten sie leicht in Abhängigkeit von wucherischen Geldverleihern und Händlern, die ihr Kapitalbedürfnis ausnutzten. Zu der natürlichen Verschuldung der Landwirtschaft, bedingt durch die Ablösungsverbindlichkeiten und die Notwendigkeit zur Modernisierung und Anwendung neuzeitlicher Wirtschaftsmethoden, kam also eine nicht strukturbedingte Finanznot der ländlichen Bevölkerung.
Zu dem gleichen Ergebnis kommt H. J. Puhle bei der Auswertung der "Wucherenquête", des Bandes 35 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik aus dem Jahre 1887. Demzufolge waren die Hauptursachen des sog. Wuchers "im wesentlichen ökonomische und psychische Eigenschaften der bäuerlichen Bevölkerung", und zwar "vor allem die Sucht nach Landerwerb wie die Abneigung, eigenes Land - und sei es noch so unrentabel - aufzugeben. Unerfahrenheit, Unwirtschaftlichkeit, Leichtsinn, aktuelle wirtschaftliche Not, Instabilität aufgrund des Fehlens des Mittelstandes auf dem Lande; ganz besonders aber die Scheu, bei den öffentlichen Kreditinstituten Hypotheken aufzunehmen, die jedermann bekannt werden konnten; statt dessen das Vertrauen zum 'verschwiegenen Handelsmann', daneben Dummheit, Mißtrauen gegenüber der eigenen Familie (besonders bei Erbteilungen), geistige Trägheit und Trunksucht, aus was für Ursachen auch immer."
Als den Antisemitismus in Kurhessen besonders begünstigendes Element sieht David Peal in seiner Dissertation (Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen: The Rise and Fall of the Böckel Movement, New York 1985) die Emanzipationsgesetzgebung von 1816 und 1833, die sogar über entsprechende Tendenzen in liberaleren Bundesstaaten hinausging. Der dadurch erleichterte wirtschaftliche Erfolg der im Handel tätigen Juden habe in auffälligem Kontrast zu der im wesentlichen durch Bevölkerungswachstum und kurstaatliche Misswirtschaft zunehmenden Pauperisierung der Bevölkerungsmehrheit gestanden. So konnten die Antisemiten in Kurhessen Vorurteile gegen Juden und gegen den mit der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung verbundenen Handel politisch aktivieren.
In besonderem Maße verantwortlich für den virulenten Antisemitismus im ehemaligen Kurhessen macht David Peal die Innen-, Rechts- und Verfassungspolitik der Kurfürstlichen Regierung in Kassel. Hinzu traten Versuche der Kasseler Regierung in der Reaktionsphase nach 1850, die Judenemanzipation rückgängig zu machen und durch eine entsprechende Gesetzgebung von eigenen Versäumnissen und Fehlern abzulenken. Während in anderen Bundesstaaten der Prozess der Transformation in die kapitalistische Wirtschaftsweise schon in den beiden ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts abgelaufen war, hatte sich in Kurhessen durch das staatliche Festhalten an Zunftordnung, Abschottung gegenüber dem Zollverein und Industrialisierungsfeindlichkeit bei gleichzeitigem Integrationsversuch der jüdischen Bevölkerung ein latentes Konfliktpotential gebildet, dessen politische Umsetzung der antisemitischen Bewegung vorbehalten blieb. Der Antisemitismus in Kurhessen nach der Integration in das Deutsche Reich war also Teil einer negativen Reaktion auf die liberalen Neuerungen, welche die tradierten Wertvorstellungen ebenso bedrohten bzw. schon außer Kraft gesetzt hatten wie die überkommenen Ordnungen im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft.
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Auch in populären "Kunstwerken": Der Jude als Inkarnation des Bösen schlechthin, vor allem als Feind des rechtschaffenen Landmannes.
     
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