Wirkungsvoller
als die antisemitische Propaganda der rechten Parteien waren sicherlich die
antisemitischen Ausfälle in der in unserem Bezirk meistgelesenen Wochenschrift,
dem Kasseler Sonntagsblatt. Die geistlich-geistige Autorität,
die von dem offiziösen Kirchenblatt ausging, kann sicherlich nicht hoch
genug veranschlagt werden. Für die Meinungsbildung von Mittelstand, Kleinbürgertum
und Landbevölkerung war das Sonntagsblatt vielfach wichtiger als die Tagespresse,
oft sogar das einzige regelmäßig gelesene Druckerzeugnis. Die Unterstützung,
welche die antisemitische Bewegung durch das Kasseler Sonntagsblatt im 19. Jahrhundert
erfuhr, wurde bereits dargestellt.
Auch nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs huldigte das Blatt dem antisemitischen
Agitator Dr. Otto Böckel, der die Kenntnis über die Juden und
die durch sie drohenden Gefahren vermittelt habe - so zu lesen in der
Ausgabe vom 11. 5. 1919, also schon wenige Monate nach dem formalen Ende des
alten Systems. In einem langen Nachruf zu seinem Tod würdigte das Kasseler
Sonntagsblatt am 30. 9. 1923 Böckels Verdienste im Kampf gegen den
unheilvollen jüdischen Einfluß im öffentlichen Leben.Eine
große echte Germanengestalt, ausgestattet mit einer glänzenden Rednergabe,
rief er in Stadt und Land das Volk zum Kampf gegen das Judentum auf..
Statt der Fürstenherrschaft die Judenherrschaft: dies charakterisiert
laut Kasseler Sonntagsblatt vom 27.6.1920 das Programm der (liberalen) Deutschen
Demokratischen Partei (DDP). Das Land - so drei Wochen zuvor - sei erwacht und
wolle von der jüdisch-gottlosen Führung nichts mehr wissen.
Diese sah das Sonntagsblatt bei der DDP, aber auch bei der SPD angesiedelt,
obwohl die große Mehrzahl der sozialdemokratischen Wähler auf
christlichem Boden steht, wie das Blatt in seiner Ausgabe vom 21.12.1924
festhielt.