Wie die Aufschlüsselung des Wahlergebnisses vom 31. 7. 1932 nach Gemeindegrößenklassen zeigt, erzielte die NSDAP ihre weitaus besten Ergebnisse in den Kleinstgemeinden. Knapp drei Viertel der Wähler in den Dörfern unter 250 Einwohner stimmten für Hitler. Fragt man nach den sozialen Tatsachen, die den Durchbruch des Nationalsozialismus in den kleinen Dörfern begünstigten, so bieten Ergebnisse der Agrarsoziologie eine Erklärung an. Die geringe Einwohnerzahl, die kleine Zahl der Gruppen, die Überschaubarkeit des Ganzen, die intensiven Binnenkontakte und die schwachen Fremdkontakte bewirken, daß das kleine Dorf sich in seinem Aufbau und Verhalten dem Typus der Primärgruppe annähert, die ihr eigenes Normensystem für die große Mehrheit der ihr Angehörenden in vielen Bereichen zur bestimmenden Richtschnur für ihr Verhalten werden läßt. Im allgemeinen wuchsen die Stimmenanteile der NSDAP mit der Abnahme der Zahl der Wahlberechtigten in den einzelnen Gemeinden. Ausnahmen bilden die Arbeiterwohngemeinden: In der Kleinstgemeinde Sieglos (58,2% der Bevölkerung lebte von Industrie und Handwerk) kam die NSDAP lediglich auf 28,7% der gültigen Stimmen, in der Kleinstgemeinde Gethsemane (51,8% Industrie und Handwerk) sogar nur auf 25,2%. Die Gemeindegröße kann also nicht allein für den Erfolg einer Partei verantwortlich gemacht werden.
Ein bedeutender Faktor für die Wahlchancen der verschiedenen Parteien ist die Sozial- und Wirtschaftsstruktur der einzelnen Gemeinden bzw. Wahlbezirke. In den genannten zehn Gemeinden, in denen die NSDAP ihre besten Erfolge erzielte, lebten (1939) zwischen 61,5% (Aua) und 83,8% (Reimboldshausen) der Gesamtbevölkerung (Kreisdurchschnitt 24,8%) von Land- und Forstwirtschaft. Auch in den anderen acht Gemeinden, in denen der Anteil der landwirtschaftichen Bevölkerung die gleiche Höhe erreichte (Biedebach, Holzheim, Kemmerode, Kruspis, Landershausen, Lautenhausen, Unterweisenborn und Wehrshausen) wie in den zehn NS-Spitzengemeinden lag der NSDAP-Hundertsatz zwischen 65,6 und 88,0 der gültigen Stimmen. Sämtliche hier aufgeführten Gemeinden zählten weniger als 250 Einwohner.
Die einzige politische Kraft, die dem Nationalsozialismus im Kreis Hersfeld ebenbürtig erschien, war die Sozialdemokratie. In der Kreisstadt, den Arbeiterwohngemeinden in ihrer Nähe und im Kaligebiet im Osten des Kreises blieb die SPD vor der Machtergreifung das stärkste Element im politischen Geschehen, obgleich sie sich auch hier in einem stetigen Rückzugsprozeß befand. Wenn die NSDAP auch die sozialdemokratischen Wählerziffern seit dem 24. 4. 32 erheblich übertraf, so war vor der Regierungsübernahme durch Hitler die SPD mitgliedermäßig immer noch mehr als doppelt so stark wie die NSDAP. Den rund 1.100 organisierten Sozialdemokraten standen 1932 ca. 500 NS-Parteigenossen gegenüber. Daß die organisierte Sozialdemokratie im Kreis Hersfeld nicht bereit war, dem nationalsozialistischen Ansturm kampflos das Feld zu überlassen, zeigte sich mehrfach in handfesten Auseinandersetzungen mit der SA, bei denen die Anhänger Hitlers fast immer den kürzeren zogen. In den größeren Orten des Kreises hatte das im wesentlichen aus SPD-Anhängern bestehende Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold schon im Frühjahr 1931 Kundgebungswellen gegen den Faschismus organisiert. Die Sozialdemokraten fanden sich aber schon zu diesem Zeitpunkt in die Defensive gedrängt. Mit ihren Beschwichtigungs- und Durchhalteparolen konnten sie keine Massen mehr begeistern. Typisch für die defensive Haltung der SPD war die Themenstellung einer Kundgebung mit MdR Schnabrich am 16. Juli 1931: "Steht Deutschland wirklich vor dem Zusammenbruch?"
Seit dem Zusammenschluß der SPD, der Freien Gewerkschaften, des Reichsbanners und der Arbeiter-Sportvereine zur Kampforganisation der Eisernen Front im Dezember 1931 führte diese unter Leitung des Textilarbeitersekretärs und Hersfelder SPD-Vorsitzenden Mäusgeier den Abwehrkampf gegen den Faschismus. Die Bildung der Eisernen Front war ein Versuch der Anpassung an den Kampfstil des politischen Gegners. Die sozialdemokatischen Wahlversammlungen des Jahres 1932 wurden von der Eisernen Front organisiert, der in fast allen Gemeinden, in denen die SPD über eine größere Zahl von Wählern verfügte, die Aufstellung von Ortsgruppen gelang. Den Veranstaltungen der Eisernen Front gaben die Arbeiter - Gesangvereine, das Trommler- und Pfeiferkorps Hersfeld, Fahnen und Uniformen ein für sozialistische Agitation bisher weitgehend unbekanntes Gesicht. Während die sozialistische Arbeiterbewegung seither ihre politische Agitation im wesentlichen auf die Überzeugungskraft von Argumenten aufgebaut hatte, wurde sie erst durch die Erfolge der Nationalsozialisten auf die Bedeutung der agitatorischen Regie aufmerksam. Für die Anhängerschaft der Sozialdemokratie mußten die Umzüge und Aufmärsche der Eisernen Front mit Fahnen und klingendem Spiel eine starke Ermutigung bedeuten. Obwohl die Aktivität der SPD durch die Bildung der Eisernen Front einen gewissen Aufschwung erlebte, konnte sie ihren Stimmenschwund bei den Wahlen nicht vollständig verhindern, der im Kreis Hersfeld aber unterdurchschnittlich blieb. Im Vergleich zu den Abwanderungsraten des bürgerlichen Lagers kann bezüglich der sozialdemokratischen Wählerschaft der Kreises Hersfeld insgesamt von einer relativen Immunisierung gegenüber dem Rechtsextremismus gesprochen werden.
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