Der Schutzbrief war für die Juden die wichtigste Urkunde. Das weist auch deren spätere Gestaltung als Druckwerk mit schöner ornamentaler Schrift aus, wie es die für unseren Raum überlieferten Judenschutzbriefe zeigen, von denen einige sogar als Originaldokumente überliefert sind.
Die Ansiedlung des Juden Meyer mit seiner Frau Zara in Rotenburg war Teil einer landesweiten Aktion, die das Ziel verfolgte, die Finanzen des Landes in Ordnung zu bringen; dies war der vormundschaftlichen Regierung der Landgrafschaft Hessen - Landgraf Ludwig I. war zum Zeitpunkt seiner Inthronisierung 1414 erst 12 Jahre alt - wichtiger als Erfolge im Territorialstreit mit den Nachbarstaaten. In einer in den 1930er Jahren verfaßten Abhandlung zur Rotenburger Geschichte muß Landgraf Ludwig . einen strengen Tadel wegen seines “judenfreundlichen” Gebarens einstecken, das angeblich “in der Stadt später oft große Erbitterung hervorrief”. Der Chronist erteilte die Rüge an Landgraf Ludwig I. offenbar in Unkenntnis des Sachverhalts, daß 1414 ein vormundschaftliches Ratskollegium und nicht der damals 12-jährige Ludwig die Regierungsgeschäfte führte.
Mit den drei Gulden jährlichen Schutzgeldes hatte der Jude Meyer in Rotenburg ein gutes Los gezogen, denn andernorts mußte zum Teil ein Vielfaches dieser Summe gezahlt werden, so in Marburg zum Beispiel 15 Gulden. Wie kam es zur Ausstellung von Schutzbriefen? Zur Beantwortung dieser Frage hilft ein zeitlicher Sprung zurück ins Hochmittelalter.
Wie schon erwähnt, änderte sich im späten 11. Jahrhundert die tolerierende Einstellung gegenüber den Juden. Dies geschah schlagartig mit dem Rühren der Werbetrommeln und den Vorbereitungen für den ersten Kreuzzug (1096), der nicht nur auf die “Befreiung” des Heiligen Landes zielte, sondern sich bald auch gegen die “Ungläubigen und Feinde Christi” im eigenen Land richtete und dabei zu grausamen Ausschreitungen gegen die Juden führte, hauptsächlich im rheinischen Raum. Statt des Kreuzfahrerrufes “Gott will es” war bald das Geschrei vom “Tod den Juden” zu hören. Im 12. und 13. Jahrhundert kamen zur Kreuzzugsidee noch andere “Begründungen” für die blutigen Verfolgungen der Juden: die Beschuldigung des Ritualmordes an christlichen Kindern und des Hostienfrevels. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert spricht man von der “Kammerknechtschaft” der Juden. Schriftlich formuliert wurde dieser Status 1236 durch den staufischen Kaiser Friedrich II., als dieser, gestützt auf ein Gutachten einer Untersuchungskommission, die Juden von der Ritualmordklage freisprach und sie unter seinen persönlichen Schutz nahm. Das bedeutete zugleich aber auch, daß sie praktisch wie andere Wertgegenstände “Eigentum” des Kaisers waren, an dessen Verwaltung, Kammer genannt, sie fortan als Kammerknechte mit barem Geld für den Schutz von Leib und Leben zahlten.
Mit Abnahme der kaiserlichen Zentralgewalt ergab sich die Notwendigkeit besserer Verfügbarkeit über diesen “Besitz”, so daß die kaiserliche Verfügungsgewalt über die Juden, das sog. Judenregal, schließlich 1356 (Goldene Bulle) an die Kurfürsten und dann auch an die jeweiligen Territorialmächte abgetreten oder verpfändet wurde, in unserem Falle an die hessischen Landgrafen. Aus kaiserlichen waren die Juden also zu landesherrlichen Kammerknechten geworden. Die Landgrafen konnten sich jetzt Juden “halten” und nach eigenem Ermessen sogenannte Schutzbriefe ausstellen. Aus der ursprünglich religiös verstandenen Knechtschaft war so eine rechtliche geworden, das Judenregal hatte die Juden zu Handelsobjekten gemacht.
Die mit einem Schutzbrief ausgestatteten Juden hatten als “Schutzjuden” das verbriefte Recht, für eine begrenzte Zeit in einem Ort zu wohnen und in dem Gebiet des Schutzherrn den ihnen offenstehenden Geschäften nachzugehen. Nach Ablauf der gewährten Aufenthaltserlaubnis mußte diese neu beantragt werden, was in der Regel auch zu deren Verlängerung führte, oft aber ebenso mit einer Erhöhung der Schutzzahlung verbunden war. Deren Entrichtung bedeutete für den Schutzjuden, daß sein Leben und Besitz vom Landesherrn mit allen diesem zu Gebote stehenden Mitteln geschützt wurde. Der hessische Landgraf Philipp hatte 1524 die Ausweisung der Juden aus seinem Territorium verfügt, dann aber 1532 teilweise und 1538 vollständig zurückgenommen. Die nach der Mitte des 14. Jahrhunderts erfolgte Wiederansiedlung von Juden in Städten und Gebieten, in denen zuvor ein großer Teil der Juden Pogromen zum Opfer gefallen war, zeigt, daß die Territorialherren von der Tätigkeit und den nutzbaren Rechten über die Juden Vorteile erwarteten. Andererseits wurde der Großteil der Juden durch die erfolgten Ausplünderungen und die auferlegten Steuern und Abgaben soweit geschwächt, daß sich ihre wirtschaftliche Tätigkeit in der Regel auf den Handel mit Trödel und den Kleinstkredit bzw. Geldverleih gegen Pfandhinterlegung beschränkte. Dies beschwor aber neue Gefahren und Bedrohungen für die jüdische Minderheit herauf. “Die Einengung ihrer wirtschaftlichen Existenzbasis auf Pfandleihgeschäfte mit Angehörigen ärmerer ländlicher und städtischer Bevölkerungskreise, die von dem Geldgeschäft mit den Juden eine kurzfristige Lösung ihrer oft dauerhaften Notlage erwarteten, rückte die Juden zusätzlich in das Zentrum von sozialen Konflikten.” Für die Juden ihrerseits war diese Situation keine vollständig neue Erfahrung, denn seit der Zerstörung ihres Tempels und des Judenstaates fanden sich die Überlebenden in der Rolle als Sklaven bzw. von Geduldeten. Die theologische Grundlage für das Einverständnis in diese Stellung in den europäischen Gesellschaften wurde bereits im 3. Jahrhundert im talmudischen Gesetz verankert, indem den Landesgesetzen der Vorrang vor den je eigenen Religionsgesetzen eingeräumt wurde. Moses Mendelssohn drückt das Jahrhunderte später so aus: “Ich bin ein Mitglied eines unterdrückten Volks, das von dem Wohlwollen der herrschenden Nation Schutz und Schirm erflehen muß. Und Freiheiten, die jedem anderen Menschenkind (zukommen), versagen sich meine Glaubensgenossen gern und sind zufrieden, wenn sie geduldet und geschützt werden.”

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Schutzbrief des Rotenburger Juden Levi Levi, 1708
Schutzbrief Salomon Abt
     
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