Die Nationalliberalen unterstützen den Antisemiten Ludwig Werner
Nachdem der Reichstagswahl des Jahres 1907 der bis dahin heftigste Wahlkampf vorausgegangen war (in der Presse ca. 20 Tage gegenüber 10 Tagen im Jahre 1903), kam es im gleichen Jahr zu einer Neuorganisation der Liberalen in Hersfeld. Am 4. 11. 1907 gründeten 22 Hersfelder Honoratioren unter Führung des Gymnasialdirektors Dr. Steiger einen Nationalliberalen Verein mit dem Ziel, den Wahlkreis für die Partei zurückzuerobern, in dem sie bis zur konservativen Wende 1878 dominiert hatte. Als Voraussetzung für ein Comeback im Raum Hersfeld wurde ein "festerer Zusammenschluß aller zugleich nationalen und liberalen Elemente in Stadt und Land" angesehen. Die Gründungsmitglieder waren vier Kaufleute, drei Fabrikanten, ein Fabrikdirektor, zwei Handwerker, drei Gymnasiallehrer, zwei Lehrer, zwei Ärzte, ein Rechtsanwalt, ein Amtsgerichtsrat und der Herausgeber und alleinige Redakteur des Kreisblatts. Nach einer Selbstcharakterisierung standen die Hersfelder Nationalliberalen "ziemlich weit rechts". Die Hersfelder Bemühungen fielen zusammen mit den Bestrebungen der (antikonservativen) Jungliberalen innerhalb der NLP, die Honoratiorenpartei traditionellen Zuschnitts durch die moderne Organisationsform der Mitgliederpartei zu ersetzen, die den Bedürfnissen des Industriezeitalters besser zu entsprechen schien. Die Stoßrichtung des Vereins war eindeutig gegen die Konservativen gerichtet und nicht gegen die antisemitische Reformpartei, mit der man ein Einverständnis über gemeinsames Vorgehen bei den 1908 anstehenden Landtagswahlen zu erzielen hoffte, bei der die Parole zu lauten habe: liberal oder konservativ. Schon bei der Reichstagswahl 1907 hatten sich die Hersfelder Honoratioren unter Führung der Liberalen im Zeichen der Blockpolitik Bülows für die Wahl des antisemitischen Kandidaten ausgesprochen, mit der Begründung, eine Zersplitterung der "reichstreuen" Wähler und die Wahl des sozialistischen bzw. des Zentrums-Kandidaten verhindern zu wollen. Man einigte sich für die Landtagswahl 1908 daher sehr schnell auf die Nominierung des seitherigen Reichstags- und Landtagsabgeordneten Werner, der 1898 67,6% der Wahlmännerstimmen erhalten und sich auch 1903 gegen seine konservativen Gegenkandidaten mit 121 : 99 Wahlmännerstimmen behauptet hatte. Werner war Anhänger der Blockpolitik und verpflichtete sich 1908 auf die Hauptforderungen der NLP in Preußen: fachmännische Schulaufsicht und Wahlrechtsreform (Neueinteilung der Wahlkreise, direktes und geheimes Wahlrecht, Pluralwahlrecht statt Dreiklassenwahlrecht). Die Deutsche Reformpartei im Wahlkreis Hersfeld-Rotenburg und der Nationalliberale Verein in Hersfeld veröffentlichten für die Landtagswahl 1908 einen gemeinsamen Wahlmännervorschlag. Die Unterstützung der Antisemiten durch den Nationalliberalen Verein in Hersfeld stieß auf heftige Kritik bei der nationalliberalen Parteileitung in Berlin und in der liberalen Presse; ebenso distanzierten sich "mehrere liberale Wähler" in der Hersfelder Zeitung von Werner. Die Freisinnige Zeitung bemerkte: "In Hersfeld-Rotenburg gibt es eine sonderbare Spielart von Nationalliberalen. Diese Herren haben beschlossen, für ... den Antisemiten Werner zu stimmen, den selben Herrn, dem ... vor einigen Jahren vom Amtsgericht Kassel attestiert wurde, daß er im Reichstag für einen jüdischen Journalisten gegen Bezahlung Berichte geliefert und dadurch, daß er diese Tatsache ableugnete, bewußt die Unwahrheit gesagt hat." Die Frankfurter Zeitung und das Berliner Tageblatt sprachen von einem "geradezu unglaublichen Beschluß ... , einen Vertreter des wüstesten Antisemitismus" zu unterstützen. Das Vorgehen der Hersfelder Nationalliberalen wurde als Affront gegen den Liberalismus betrachtet, zumal der konservative Kandidat von Tuercke sich für ein liberales Wahlrecht aussprach. Auch in der Frage der Schulaufsicht teilte der freikonservative Kandidat den Standpunkt der Liberalen , die aber in der Stadt Hersfeld nahezu geschlossen für den Antisemiten stimmten; nur zwei Wahlmänner gaben ihre Stimme für von Tuercke ab, während der Konservative von Bodelschwingh in Hersfeld völlig leer ausging. Im Landtagswahlkreis Hersfeld-Rotenburg siegte von Tuercke im zweiten Wahlgang dank der Unterstützung durch die Wahlmänner von Bodelschwinghs über den antisemitisch-nationalliberalen Kandidaten, der im ersten Wahlgang knapp geführt hatte, mit 135 gegen 109 Stimmen (erster Wahlgang: Werner 105 Stimmen, von Tuercke 98 Stimmen, von Bodelschwingh 42 Stimmen). Im Landkreis Hersfeld stimmten im ersten Wahlgang 70 Wahlmänner für Werner, 13 für Tuercke und 25 für Bodelschwingh.
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