Die Reichstagswahl vom 12. 1. 1912
In den Wahlkampf griff Werner erst Anfang Dezember 1911 Als letzter Kandidat persönlich ein, der an Länge und Intensität alle vorhergegangenen Wahlkämpfe weit übertraf. Die Rechtsschwenkung seit der Landtagswahl 1908 kostete Werner zwar die Unterstützung der Nationalliberalen, durch die Billigung eines lückenlosen Zolltarifs gewann er aber den Bund der Landwirte und die Vertrauensmänner der Konservativen Partei für sich, die in einer gemeinsamen Versammlung beschlossen, den Antisemiten Werner zu unterstützen und auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten zu verzichten. Dieser Entschluss konnte den Konservativen nach der vernichtenden Niederlage von Bodelschwinghs im Jahre 1907 nicht schwerfallen. Der Bund der Handwerker (BdH) mit seiner Hauptforderung nach Beschränkung der Gewerbefreiheit lehnte den liberalen Kandidaten ab und wählte Werner zu seinem Kandidaten, nachdem sich dieser auf die Forderungen des Bundes verpflichtet hatte. Die Gründung einer eigenen Interessenvertretung mit dem Ziel der Erneuerung korporativer Organisationsformen war den Handwerkern im Jahre 1909 gelungen. Bis zum Frühjahr 1911 bildeten sich Ortsgruppen des BdH in allen größeren Orten des Wahlkreises. Bereits vor der Landtagswahl 1908 hatte sich die Bundesleitung des BdH für Werner verwandt und die Handwerker ermahnt, sich nicht als Wahlmänner für die Konservativen und den BdL aufstellen zu lassen. Die Unterstützung durch die Organisationen der Handwerker und Landwirte gewann für Werner größte Bedeutung, da durch das Auftreten der Hessischen Bauernpartei jene Wählerschicht direkt angesprochen wurde, die seither Werners stärkste Stütze gewesen war: die kleinen und mittleren Bauern. Diese stellten das größte Wählerkontingent im Wahlkreis Hersfeld-Hünfeld-Rotenburg. Da der BdL von seinen Kritikern immer mehr als Vertreter der Anliegen der Großgrundbesitzer charakterisiert wurde, lag in der Unterstützung durch diesen Verband für Werner zugleich allerdings die Gefahr der Isolierung von den klein- und mittelbäuerlichen Schichten. Die antisemitische Bewegung hatte sich im Laufe von zwei Jahrzehnten von einer antikonservativen Rebellion zu einem Anhängsel des Konservatismus entwickelt. Die Bauernpartei überzog seit Sommer 1910 die Gemeinden des Kreises mit Versammlungen und führte in ihrer in Bebra erscheinenden Zeitung Das Landvolk eine scharfe Sprache gegen den BdL und den Antisemiten Werner, den sie als "Volksbetrüger", "Junkerknecht" und "Schnapsverteurer" titulierte. Von den 18 Gemeinden, in denen die Konservativen 1907 die Mehrheit hatten, fielen elf an Werner, sechs an Rudloff (Bauernpartei). Nur dadurch, dass Werner einen erheblichen Teil der 1.066 konservativen Wähler auffangen konnte, vermochte er eine entscheidende Niederlage zu verhindern. Die Fluktuation der konservativen Wähler zu Werner war dadurch begünstigt, dass der konservative Kandidat des Jahres 1907, von Bodelschwingh, zugleich Wahlkreisvorsitzender des Bundes der Landwirte war, der lebhaft für Werner eintrat. Da Werner 1912 die Regierungspolitik zu seinem eigenen Programm gemacht hatte, musste er die Wählerschichten verlieren, die kein Verständnis für die Ablehnung der Erbschafts- und Einkommensteuerreform aufbringen konnten und durch die Erhöhung der indirekten Steuern im Jahre 1909 die Last der wachsenden Rüstungsausgaben auf ihre Taschen abgewälzt sahen. Für den Kandidaten der Fortschrittlichen Volkspartei (FVP), den Bahnhofsvorsteher Fiedler, der sechs Monate vor dem Wahltermin von Bebra nach Gießen versetzt worden war, stimmten 13,7% der Wähler. Die liberale Wählerschaft Hersfelds war durch den Streit bei der Kandidatennominierung gespalten, so dass Fiedler ohne die Unterstützung des einflussreichen Nationalliberalen Vereins in der Kreisstadt nur auf 19,9% der Stimmen kam. Fiedler erzielte seine besten Ergebnisse in den Eisenbahnergemeinden Mecklar (34,9%) und Friedlos (28,4%) sowie in den beiden "Judendörfern" Schenklengsfeld (35,0%) und Niederaula (22,3%), wo der Anteil der jüdischen Bevölkerung (1905) 18,2% bzw. 10,6% In den Gemeinden verschiedener Größe (Stand 1905) erhielten: Die kleinen (Bauern-) Gemeinden und die Kreisstadt waren also die Hauptstützen Werners, während Schnabrich (SPD) in den mittleren Gemeinden mit 250 - 750 Einwohnern klar dominierte. Das Abschneiden der Liberalen stand in proportionalem Verhältnis zur Gemeindegröße, während sich die Ergebnisse der Bauernpartei ebenso eindeutig umgekehrt dazu verhielten. „Judenwahlen“ nannten die politischen Rechten des Wilhelminischen Deutschland die Reichstagswahlen vom 12. Januar 1912, und zwar wegen des Stichwahlbündnisses der „jüdischen“ Sozialdemokratie mit dem „jüdischen“ Linksliberalismus und wegen der Wahlaufrufe des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, bedingungslos gegen die Antisemiten vorzugehen. Der beeinduckende Wahlsieg der Sozialdemokraten, die erstmals die stärkste Fraktion im Reichstag stellten, hatte das rechte Bürgertum aufgeschreckt. Wirtschaftlicher Ruin, kultureller Verfall, Untergang des Deutschen Reiches - die Schuld an diesen angeblich drohenden Gefahren wurde den Juden bzw. den von ihnen unterstützten Parteien zugeschoben. Es kam zu einer Formierung des rechtsbürgerlichen, deutschnationalen und völkischen Lagers, die mit einer Neubelebung des Antisemitismus in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg einherging. Von dieser Entwicklung konnten auch die Parteiantisemiten profitieren. In der am 22. März 1914 neugegründeten Deutschvölkischen Partei übernahm Ludwig Werner das Amt des 2. Vorsitzenden. Mit der Bezeichnung „deutschvölkisch“ sollten die rassenantisemitische Ausrichtung der Partei und ihr Hauptziel, die „Reinhaltung und Erhaltung unseres deutschen Volkstums, das ständig in größere Gefahren hineinkommt“, besonders betont werden, wie es in einer „Aufklärungsschrift“ hieß. Die „Deutsche Reformpartei“ (Vorsitzender von 1911 bis 1914: Ludwig Werner) hatte schon 1898 auf ihrem Kasseler Parteitag die Aufnahme des Zusatzes „deutsch-völkisch“ in ihren Parteinamen diskutiert. Ab dem 5. Januar 1917 führte das amtliche Organ der Deutschvölkischen Partei, die Deutschvölkischen Blätter, das Hakenkreuz als Zeichen des völkischen Nationalismus und Antisemitismus im Titelkopf. Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs im November 1918 ging die Deutschvölkische Partei dann in der Deutschnationalen Volkspartei auf, wo ihre Anhängerschaft allerdings im „Deutschvölkischen Bund“ zusammengefasst blieb. Mit der Bildung der Deutschvölkischen Partei waren praktisch alle Parteiantisemiten in einer Organisation vereint.
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Der Antisemit Ludwig Werner tritt als "Mittelstandsmann" auf
 
     
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