Zusammenfassung
der Wahlentwicklung im Wahlkreis Hersfeld-Hünfeld-Rotenburg
1893 war es dem antisemitischen Redakteur Ludwig Werner auf Anhieb gelungen,
den Wahlkreis zu erobern, den er bis 1918 im Reichstag vertrat. Im Landkreis
Hersfeld kam Werner jedoch erst 1898 mit Unterstützung des Bundes der Landwirte
zu einer Mehrheit; 1893 hatte er dies nur im Ostteil des Kreises Hersfeld geschafft.
In den Reichstagswahlen 1903 und 1907 unterstützte der Vorstand des Bundes
der Landwirte (BdL) zwar wieder die konservativen Kandidaten; ein Teil der Vertrauensmänner
des BdL erklärte sich jedoch für Werner. 1907 war Werner nicht mehr
auf die Unterstützung seitens der organisierten Landwirtschaft angewiesen,
denn maßgebliche Vertreter des gewerblichen Mittelstandes, der Lehrerschaft,
der Beamten und der Hersfelder Industrie sprachen sich in den Wahlaufrufen mehrfach
für Werner aus. Es muss dabei jedoch erwähnt werden, dass die Hinwendung
zum organisierten Antisemitismus für viele Wähler keine ideologische
Grundsatzentscheidung bedeutete, sondern in erster Linie sozialen und wirtschaftlichen,
aber auch an die Person des Kandidaten gebundenen und lokal bedingten Motiven
entsprang. Mit Ausnahme der Arbeiterschaft gab es im Raum Hersfeld keine Schicht,
die sich nicht zumindest temporär für den Antisemiten Werner erklärte.
Das Abschneiden der Parteien in den einzelnen Gemeinden hing im allgemeinen
stark von dem jeweiligen Kandidatenangebot ab. Da es der antisemitische Wahlkreisabgeordnete
verstand, sich vom Agitator einer Protestpartei zum Interessenvertreter des
heimischen Gewerbes und der Landwirtschaft bei den folgenden Landtags- und Reichstagswahlen
zu entwickeln, fällt es schwer, die sozioökonomische Basis der Parteien
im Raum Hersfeld in der Kaiserzeit zu bestimmen. Während bei ihrem ersten
Auftreten zu Beginn der 90er Jahre der Protest gegen das konservativ-nationalliberale
Establishment die vorherrschende Tonlage war, wurde der Antisemit Ludwig Werner
in der Folgezeit in die vorgegebenen Machtstrukturen einbezogen, so dass er
sich mit wechselnden Koalitionen ausreichende Mehrheiten verschaffen konnte.
So war es dem Antisemiten Werner möglich, das Reichstagsmandat bis zum
Ende des Kaiserreichs zu behaupten, zumal er nach seiner erneuten Rechtsschwenkung
1912 wieder die offizielle Unterstützung des Bundes der Landwirte genoss.
1912 wurden die Antisemiten allerdings in der Hauptwahl im Landkreis Hersfeld
von den Sozialdemokraten knapp besiegt, die auf Kosten Werners fast doppelt
so viele Stimmen erhielten wie 1907. In der Stichwahl aber waren die Sozialdemokraten
den Antisemiten klar unterlegen, da diese nicht nur die Unterstützung des
Zentrums und der Nationalliberalen genossen, sondern auch Wahlhilfe von der
Fortschrittlichen Volkspartei erhielten. Mit 13,7% der Stimmen in der Hauptwahl
war den Linksliberalen 1912 wie bei ihren früheren Kandidaturen kein nennenswerter
Erfolg im Kreis Hersfeld beschert; die potentielle Wählerschaft der Linksliberalen
hatte sich dem Antisemitismus verschrieben. Bei der Betrachtung der Zahlenverhältnisse
bleibt allerdings zu bedenken, dass Wahlabsprachen verschiedener Art und das
Prinzip der Persönlichkeitswahl eindeutige Aufschlüsse über das
tatsächliche Stärkeverhältnis der Parteien nicht zulassen. Auf
jeden Fall blieb das Mandat für den Reichstagswahlkreis Hersfeld-Hünfeld-Rotenburg
länger als in irgendeinem anderen Wahlkreis fest in antisemitischer Hand.
Wahlkreis
Hersfeld-Hünfeld-Rotenburg von 1893 bis 1918 fest in antisemitischer
Hand |