Beachtenswert die Reaktion des Gastwirts Küllmer in Seifertshausen, der den Antisemiten seinen Saal verweigerte. Oder geschah dies aufgrund behördlichen Drucks?
Der damalige Kasseler Regierungspräsident Rothe verglich die demagogische Art der Agitation der Antisemiten mit den Methoden der Sozialdemokraten, der "schärfsten Gegner des Staates". Die Antisemiten verständen es, "die Triebe der unter dem Druck jüdischer Wucherer seufzenden Landbevölkerung zu erregen, hierbei aber nicht nur eine Hetze gegen die Juden, sondern zugleich Erbitterung gegen die Behörden und alle diejenigen, welche sich ihnen nicht anschließen, hervorzurufen". Zugleich wurde in diesem Bericht die Beteiligung evangelischer Pfarrer an der antijüdischen Kampagne vermerkt.
Nach D. Peal (1985, S. 221f.) unterstützte der kirchlich-offiziöse Kasseler Sonntagsbote, die wohl auflagenstärkste Publikation in Nordhessen in damaliger Zeit, die antisemitische Bewegung von Anfang an. Peal zitiert aus einem Sonntagsboten-Leitartikel aus dem Jahre 1890: "Wir stimmen völlig mit den Antisemiten überein, dass Gesetze gegen die Juden, die Ausbeuter unseres Volkes, verabschiedet werden müssen, wenn Deutschland nicht zugrunde gehen soll." (Rückübersetzung aus dem Engl., H. N.)Im gleichen Jahr druckte der Sonntagsbote Teile aus Böckels Kampfschrift "Die Juden, die Könige unserer Zeit" ab, ließ den antisemitischen Kandidaten für Kassel-Land/Melsungen, Paul Förster, einen Artikel schreiben und gab sogar Empfehlungen zur Lektüre von Ahlwardt, dem unbestritten wüstesten antisemitischen Agitator.
Peal räumt ein, dass die tatsächliche persönliche Mitwirkung der protestantischen Geistlichkeit nur schwer nachweisbar sei ("es ist nicht bekannt, was sonntags gepredigt wurde. Aber wenn das, was im Sonntagsboten stand, mit den sonntäglichen Predigten übereinstimmte, dann seien die evangelischen Pfarrer mitverantwortlich für die Erfolge der antisemitischen Bewegung. Der Nachweis für antisemitisches Wirken eines Pfarrers in Hersfeld findet sich bei Monika Richarz (Hrsg.), Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 2, New York 1979, S. 145; bei Richarz (S. 157) wird der Kasseler Sonntagsbote als "der antisemitische S." geführt (vgl. Peal 1985, S. 222, Anm. 22).
Darüber hinaus waren auch Teile der Beamtenschaft - besonders der Lehrer und unteren Beamten - antisemitisch eingestellt, so dass die Regierung nur bedingt in der Lage sein konnte, dem antisemitischen Treiben wirksam zu begegnen. Wie weit die Förderung antisemitischer Bestrebungen durch Staatsbedienstete ging, wird durch die Tatsache illustriert, dass die für das angrenzende Oberhessen zuständige Regierung des Großherzogtums Hessen in Darmstadt sich zu einer Verfügung genötigt sah, derzufolge den Beamten disziplinarische Strafen für antijüdische Aktionen angedroht wurden.
Der aus der antisemitischen Bewegung ausgeschiedene ehemalige Redakteur H. G. Erdmannsdörffer charakterisierte in einer 1898 erschienenen Schrift die Anhängerscharen der aantisemitischen Deutsch-sozialen Reformpartei "aus langjähriger trüber Erfahrung" als Leute, die "auf Sensationen, prickelnde Judengeschichten, gute und schlechte Witze geeicht" sind. "Das Gedanken- und Agitationsmaterial bleibt mit einigen Varianten stets das gleiche." Die Animosität der Reformparteiler gegenüber den Konservativen sieht Erdmannsdörffer allein in taktischen und agitatorischen Beweggründen, da sie sich im Parlament nahezu vollständig in Übereinstimmung mit dem wirtschaftspolitischen und sozialen Zielen der Konservativen zeigten.
Die politische Bewegung des Antisemitismus trug im Wahlkreis Hersfeld keinen spontanen Charakter, sondern wurde erst zu einem Zeitpunkt von außen hineingetragen, als der “Wucher” und damit die unterstellte ökonomische Machtstellung der Juden längst ihren Höhepunkt überschritten hatten. Der bäuerliche und gewerbliche Mittelstand setzte die soziale Frage erst nach der Berieselung durch die antisemitische Agitation mit der Judenfrage gleich.
Mit der sich im Prinzip unvermittelt auf ein bestimmtes, für Wahlerfolge geeignet erscheinendes Gebiet konzentrierenden antisemitischen Agitation liefert der Wahlkreis Hersfeld ein gutes Beispiel für die auch von David Peal (1985, S. 140) beschriebene Strategie antisemitischer Wahlfeldzüge. Unter Hinweis auf den fehlenden Zusammenhang zwischen antisemitischen Wahlerfolgen und dem Ausmaß des (jüdischen) Wuchers, wie er in der Erhebung des Vereins für Sozial-politik ("Wucher auf dem Lande") für die verschiedenen Teile des Deutschen Reiches nachgewiesen wurde, kommt Peal zu dem Ergebnis, dass die antisemitischen Wahlerfolge in Kurhessen ebensowenig wie im Großherzogtum Hessen und in Sachsen als unmittelbare Antwort der dort wohnenden Bevölkerung auf wucherische jüdische Ausbeutung zu erklären seien. Die Erfolge in Kurhessen und Oberhessen, so Peal, waren vielmehr das Ergebnis konzentrierter Bemühungen der reichsweiten antisemitischen politischen Bewegung auf diese Gebiete, die aufgrund von Überbevölkerung und struktureller Unterbeschäftigung aus den Zeiten des Vormärz als besonders geeignetes Agitationsfeld erschienen. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts gelang hier die volle Integration in den größeren deutschen Wirtschaftsraum und die veränderten politisch-gesellschaftlichen Realitäten. Als zusätzliche Elemente mit Erfolgsaussicht für die antisemitische Agitation nennt Peal die für Kurhessen und Oberhessen geltende politische Indifferenz und schwache Verankerung der anderen Parteien. Die anderen Parteien waren nicht in der Lage, die Probleme, die sich aus der Liberalisierung des Wirtschaftslebens und dem Verfall der traditionellen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ergaben, politisch zu verarbeiten.
Die Umstellung von der Naturalwirtschaft auf die Geldwirtschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts fiel den Landwirten nicht leicht. Mit der Aufhebung der Hörigkeit waren die Bauern zwar persönlich frei geworden, aber nicht auf die Spielregeln der freien Marktwirtschaft eingestellt. In dieser Situation wurden die jüdischen Händler, die aufgrund der ihnen zudiktierten Rolle (z. B. Verweigerung der Zunftmitgliedschaft) in den Praktiken des Wirtschaftskampfes geübt waren, die Nothelfer für die in Schwierigkeiten befindlichen Bauern. Begünstigt wurde die Finanznot durch einen regelrechten Landhunger der ländlichen Bevölkerung. Wo immer ein verschuldetes Gut vereinzelt wurde, fanden sich Käufer in ausreichender Zahl. Da diese nur in den wenigsten Fällen über genügend Barmittel zur Finanzierung des Landkaufs verfügten, gerieten sie leicht in Abhängigkeit von wucherischen Geldverleihern und Händlern, die ihr Kapitalbedürfnis ausnutzten. Zu der natürlichen Verschuldung der Landwirtschaft, bedingt durch die Ablösungsverbindlichkeiten und die Notwendigkeit zur Modernisierung und Anwendung neuzeitlicher Wirtschaftsmethoden, kam also eine nicht strukturbedingte Finanznot der ländlichen Bevölkerung.
Zu dem gleichen Ergebnis kommt H. J. Puhle (1975a, S. 127) bei der Auswertung der "Wucherenqoute", des Bandes 35 der Schriften des Vereins für Sozialpolitik aus dem Jahre 1887. Demzufolge waren die Hauptursachen des sog. Wuchers "im wesentlichen ökonomische und psychische Eigenschaften der bäuerlichen Bevölkerung", und zwar "vor allem die Sucht nach Landerwerb wie die Abneigung, eigenes Land - und sei es noch so unrentabel - aufzugeben. Unerfahrenheit, Unwirtschaftlichkeit, Leichtsinn, aktuelle wirtschaftliche Not, Instabilität aufgrund des Fehlens des Mittelstandes auf dem Lande; ganz besonders aber die Scheu, bei den öffentlichen Kreditinstituten Hypotheken aufzunehmen, die jedermann bekannt werden konnten; statt dessen das Vertrauen zum 'verschwiegenen Handelsmann', daneben Dummheit, Misstrauen gegenüber der eigenen Familie (besonders bei Erbteilungen), geistige Trägheit und Trunksucht, aus was für Ursachen auch immer."
Als den Antisemitismus in Kurhessen besonders begünstigendes Element sieht David Peal in seiner jüngst erschienenen Dissertation (Anti-Semitism and Rural Transformation in Kurhessen: The Rise and Fall of the Böckel Movement, New York 1985) die Emanzipationsgesetzgebung von 1816 und 1833, die sogar über entsprechende Tendenzen in liberaleren Bundesstaaten hinausging. Der dadurch erleichterte wirtschaftliche Erfolg der im Handel tätigen Juden habe in auffälligem Kontrast zu der im wesentlichen durch Bevölkerungswachstum und kurstaatliche Misswirtschaft zunehmenden Pauperisierung der Bevölkerungsmehrheit gestanden. So konnten die Antisemiten in Kurhessen Vorurteile gegen Juden und gegen den mit der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung verbundenen Handel politisch aktivieren.
In besonderem Maße verantwortlich für den virulenten Antisemitismus im ehemaligen Kurhessen macht David Peal die Innen-, Rechts- und Verfassungspolitik der Kurfürstlichen Regierung in Kassel. Hinzu traten Versuche der Kasseler Regierung in der Reaktionsphase nach 1850, die Judenemanzipation rückgängig zu machen und durch eine entsprechende Gesetzgebung von eigenen Versäumnissen und Fehlern abzulenken. Während in anderen Bundesstaaten der Prozess der Transformation in die kapitalistische Wirtschaftsweise schon in den beiden ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts abgelaufen war, hatte sich in Kurhessen durch das staatliche Festhalten an Zunftordnung, Abschottung gegenüber dem Zollverein und Industrialisierungsfeindlichkeit bei gleichzeitigem Integrationsversuch der jüdischen Bevölkerung ein latentes Konfliktpotential gebildet, dessen politische Umsetzung der antisemitischen Bewegung vorbehalten blieb. Der Antisemitismus in Kurhessen nach der Integration in das Deutsche Reich war also Teil einer negativen Reaktion auf die liberalen Neuerungen, welche die tradierten Wertvorstellungen ebenso bedrohten bzw. schon außer Kraft gesetzt hatten wie die überkommenen Ordnungen im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft.
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Wie vehement die Antisemiten die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung betrieben, zeigt die von ihnen gewählte Form der Einladungen zu ihren Veranstaltungen: an die “christlichen Wähler” waren diese gerichtet.
 
In der Zeitungsannonce für die “Volksversammlung” am 22. 10. 1892 werden Juden und “Ruhestörer” gar in einem Atemzug als diejenigen Personengruppen genannt, die vom Versammlungsbesuch ausgeschlossen sind
     
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